| # taz.de -- Tourismus in Tschernobyl: Zu Besuch in der Todeszone | |
| > Wer den GAU-Reaktor in Tschernobyl besuchen will, macht das auf eigenes | |
| > Risiko. Aber wenigstens gibt es Touristenführer und ein | |
| > Dokumentationszentrum. | |
| Bild: Nagelneues Riesenrad: Der Vergnügungspark von Pripjat sollte am 1. Mai e… | |
| TSCHERNOBYL/PRYPJAT taz | Das Papier ist eindeutig: Sollten Fotoapparat | |
| oder andere persönliche Dinge verstrahlt werden, haftet der Besucher. | |
| „Herzlich willkommen in Tschernobyl“, sagt Nikolai Fomin, ein pausbackiger | |
| Hüne in Militärkluft. Er bittet, die Haftungsbefreiung des staatlichen | |
| Reiseveranstalters nun gegenzuzeichnen. Der Absolvent der | |
| Tourismus-Akademie in Kiew führt seit zwei Jahren Touristen durch die | |
| Todeszone Tschernobyls. Erst nachdem alle das Papier unterschrieben haben, | |
| wünscht er „angenehmen Aufenthalt!“ | |
| Unterschrieben hat George, aus London, ebenso wie Christian und Wiktor, | |
| zwei Rumänen, die in Wien studieren. Warum haben sie 160 Dollar für diese | |
| Reise investiert? George, Jurist, sagt: „Ich suche ein reales Gefühl für | |
| die abstrakte Debatte um die Atomtechnik.“ Die beiden Rumänen nicken. Ein | |
| weißer VW-Bus wartet am Tschernobyler „Denkmal der Liquidatoren“. | |
| Also los! Bauarbeiter bessern die Winterschäden der Straße zum | |
| Atomkraftwerk aus. Reiseführer Nikolai reicht George einen Geigerzähler, | |
| ernennt ihn zum „Strahlenschutzbeauftragten“. „Biep – biep – biebiep�… | |
| Messgerät zeigt 0,17 Mikrosievert pro Stunde, nicht viel mehr als die | |
| natürliche Hintergrundstrahlung in Kiew, Hamburg oder Castrop-Rauxel. | |
| „Erster Tagesordnungspunkt: der Rote Wald“, kündigt Nikolai an. „Bieb – | |
| biep – biep“, der Geigerzähler summt sonor. Plötzlich aber fängt das | |
| Messgerät zu schreien an, es überschlägt sich, heult schließlich wie eine | |
| Sirene. | |
| Nikolai bittet den Fahrer, anzuhalten. Das Messgerät weist 11,2 | |
| Mikrosievert stündlich aus, zehn Mal so viel wie bei einer | |
| Röntgenuntersuchung. „Hierher wurde damals besonders viel Radioaktivität | |
| geweht“, sagt Nikolai. Wochen nach dem Unglück hätten sich die Bäume zuerst | |
| gelb verfärbt, „als hätte jemand Farbe über sie gegossen“. Monate später | |
| tauchte die Radioaktivität die Fauna in ein tiefes Rot, „daher der Name: | |
| Roter Wald“. | |
| ## „Dawai, dawai“ | |
| Mittlerweile sind die Bäume gefällt und im Zwischenlager deponiert. „Aber | |
| die Strahlung bleibt natürlich“, sagt Nikolai. Zum Beweis nimmt er den | |
| Geigerzähler und verlässt die Straße. „17!“, ruft er, macht ein Dutzend | |
| Schritte weiter, „23“, und dann noch drei: „35!“ – dann sprintet er z… | |
| „Dawai, dawai“. Die Reifen quietschen, kurze Zeit später fällt der | |
| Geigerzähler zurück in monotones Biepen. | |
| Am Horizont wird der Umriss des Kraftwerks sichtbar. Einst plante die | |
| Sowjetunion hier mit elf Reaktoren den größten Atomkomplex der Welt. Aber | |
| daraus wurde nichts: Ein schlecht vorbereitetes Experiment jagte Block 4 | |
| des Kraftwerk „W. I. Lenina“ am 26. April 1986 in die Luft. Nach dem Unfall | |
| wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die weitgehend fertigen Hallen der | |
| Reaktoren 5 und 6 dienen inzwischen als atomares Zwischenlager. | |
| Der VW-Bus hält am Ortseingang der Geisterstadt Prypjat, wo einst die | |
| Arbeiter des Atomkraftwerkes wohnten. Nikolai reicht dem Posten die | |
| Genehmigung durchs Fenster, ein Schlagbaum öffnet sich. Durch | |
| Platten-Wohnblocks geht es über den Lenin-Prospekt ins Zentrum. Hier steht | |
| das Hotel, die Polizeiwache, ein Restaurant, der „Kulturpalast der | |
| Energetiker“. Der Geigerzähler meldet 0,2 Mikrosievert, also keine Gefahr. | |
| Zwei Stunden Aufenthalt sieht das Programm in Prypjat vor. In der | |
| Eingangshalle des Kulturpalastes strahlen noch Reste üppiger Wandmalereien, | |
| in den Trümmern liegt das Mischpult der Diskothek „Edison 2“. Im | |
| Theatersaal steht ein Plakat mit der Aufschrift „UdSSR – 60 Jahre“. Im | |
| Zimmer 426 des Hotels Polissia wächst eine Birke in der Mitte des Raumes. | |
| Nikolai, warum ist hier alles so zerstört? „Der Frust“, sagt der | |
| Reiseleiter, „Frust, Alkohol, Ohnmacht – Vandalen haben die ganze Stadt | |
| kurz und klein geschlagen.“ Kaum eine Fensterscheibe blieb verschont, auch | |
| der „Vergnügungspark“ ist übersät mit leeren Wodkaflaschen. | |
| ## Konservierte Socjen an den Wäscheleinen | |
| Ursprünglich sollten Kinderkarussell, Autoscooter oder Riesenrad am 1. Mai | |
| 1986, dem Tag der Werktätigen, eröffnet werden. Aber dazu kam es nicht | |
| mehr. Die Menschen wurden am 28. April evakuiert. In mancher Wohnung | |
| scheint das Leben konserviert zu sein. Kalender hängen an der Wand, in | |
| denen Geburtstage eingetragen sind, auf der Wäscheleine halten Klammern | |
| Socken, in den Schrankwänden stehen Bücher. | |
| „Jetzt kommt die Hauptattraktion“, der Bus hält am „Dokumentationszentru… | |
| vielleicht 120 Meter von dem Sarkophag, der Schutzhülle um den | |
| Katastrophenreaktor. „Sie sehen hier jede Menge Kameras, die uns | |
| überwachen! Halten Sie sich also bitte daran: Fotos nur in Richtung des | |
| Reaktors, andernfalls riskieren Sie eine Beschlagnahmung Ihrer Chipkarten.“ | |
| Nikolai erzählt, dass seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auch hier | |
| verschärfte Sicherheitsauflagen gelten. Der Geigerzähler zeigt 4 | |
| Mikrosievert, die beiden Rumänen gehen dem Reaktor ein paar Schritte | |
| entgegen, 4,9 Mikrosievert. Nikolai erzählt, dass direkt an der Schutzhülle | |
| 200 Millisievert gemessen wurden, eine Dosis, die nach einigen Tagen tötet. | |
| Zurück in der Stadt Tschernobyl. Die Touristen werden in zwei, drei Stunden | |
| unter der Hoteldusche in Kiew stehen. Nikolai muss bleiben. Warum er diesen | |
| Job macht? „Leben nach der Katastrophe – an diesem Experiment selbst | |
| teilzunehmen, das hat mich gereizt.“ Nikolai verschweigt nicht, dass der | |
| Job gut bezahlt ist. Hat er keine Angst vor der Strahlung? „Ich habe auf | |
| dieser Führung 3 Mikrosievert abbekommen, etwa so viel wie bei einem | |
| Interkontinentalflug.“ Und dann sagt er: „Manager und Stewardessen lebten | |
| gefährlicher.“ | |
| 11 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Nick Reimer | |
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