Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Syrien: Verhedderte Problemlage
> Das syrische Dilemma besteht im Widerspruch zwischen völkerrechtlicher
> und moralischer Legitimation. Das Vetorecht des Sicherheitsrats müsste
> fallen.
Bild: Die Zerstörung von Homs, hier im Viertel Jab Al-Jandli, setzt sich fort.
Die laufende Debatte über Möglichkeiten, die Aggression der syrischen
Regierung gegen die Zivilbevölkerung zu stoppen, zeigt die ganze Vielfalt
widersprüchlicher Kriterien, juristischer wie moralischer. In der taz
schrieb Konfliktforscher Berthold Meyer an dieser Stelle, nach Abwägung
aller Risikofaktoren erscheine ihm ein militärisches Eingreifen in Syrien
nicht geboten.
Mein hochgeschätzter Kollege Dominic Johnson widersprach: Eingegriffen
werde sowieso. Es sei besser, das zu gestalten, als es dem Zufall zu
überlassen. Schließlich fehlen auch nicht Völkerrechtler wie der Hamburger
Professor Reinhard Merkel, die alle Aufrufe zum Eingreifen letztlich als
kriegstreiberisch begreifen.
Gerade die Berufung auf das Völkerrecht aber zeigt das ganze Dilemma, denn
was ist denn die Rechtslage? Angriffskriege sind verboten. Das Massakrieren
der eigenen Bevölkerung ist verboten. Menschenrechtsverletzungen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord sind verboten. Die
Ausrüstung, Unterstützung und Bewaffnung von Aufständischen in einem
anderen Land sind verboten.
## Internationale Gemeinschaft hat Verantwortung
Das beim Weltgipfel 2005 verabschiedete Prinzip der „Schutzverantwortung“
(Responsibility to Protect, R2P) erweitert den traditionellen Begriff der
staatlichen Souveränität, also des Rechts eines Staates auf die
Unverletzlichkeit seiner Grenzen und nationale Selbstbestimmung, um die
Verantwortung, seine Bürger zu schützen. Schützt ein Staat seine Bürger
nicht vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord oder begeht
diese Verbrechen gar selbst, hat die internationale Gemeinschaft die
Verantwortung für den Schutz dieser Bevölkerung zu übernehmen. Das ist der
Kern der derzeitigen Debatte.
Die Weltgemeinschaft kann ihre Verantwortung auf verschiedene Weise
wahrnehmen, am weitestgehenden ist eine Resolution des Sicherheitsrates,
die, wie im Falle der Resolution 1973 zu Libyen vom März vergangenen
Jahres, militärische Maßnahmen autorisiert, um solche Verbrechen zu
verhindern oder zu beenden.
Das Problem: Es gibt keine verbindliche internationale Justiz, die
juristisch feststellen würde, wann in einem Land die schwere Verletzung der
staatlichen Schutzverantwortung vorliegt. Die letzte Entscheidung verbleibt
derzeit immer beim Sicherheitsrat – und dessen 15 Mitglieder, inklusive der
fünf ständigen, vetoberechtigten Staaten USA, Russland, Großbritannien,
Frankreich und China, sind in ihrer Entscheidung nicht an Rechtsprinzipien
gebunden, sondern entscheiden nach Interessenlage. Wenn auch nur eine
Vetomacht mit Nein stimmt, ist ein Eingreifen legal nicht machbar.
## Juristisch quasi Selbstjustiz
Gleichzeitig gibt es den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung im
zwischenstaatlichen Recht nicht. Es zeigt sich: Die Anwendung des
Völkerrechts kann taugen, um Menschenleben zu schützen – kann aber auch das
exakte Gegenteil bewirken. Das ist, vorsichtig formuliert, unbefriedigend.
Ist es also legitim, den Sicherheitsrat zu umgehen, wenn ausreichend
militärisch potente Staaten zu dem Schluss kommen, ein Eingreifen sei
notwendig? Aus der Sicht der attackierten Bevölkerung auf jeden Fall. Nur:
Juristisch ist das auf völkerrechtlicher Ebene quasi Selbstjustiz, und die
ist aus gutem Grund verboten.
Aber selbst wenn der Sicherheitsrat wie im Falle Libyens ein Eingreifen
autorisiert, ist nicht immer das Recht im Spiel. Die Allianz der
beteiligten Nato-Staaten nahm die Resolution ohne großes Federlesen als
Freibrief, um Gaddafi aus dem Amt zu bomben – was zwar per se nicht
wirklich bedauerlich ist, aber über das offizielle Ziel der Resolution
deutlich hinausging.
Die brasilianische Regierung hat in einem Statement an UN-Generalsekretär
Ban Ki Moon im November vergangenen Jahres zu Protokoll gegeben: „Der
Eindruck wächst, dass das Konzept der ’Schutzverantwortung‘ für andere
Zwecke als den Schutz von Zivilisten missbraucht werden könnte, zum
Beispiel für die Herbeiführung eines Regimewechsels. Dieser Eindruck könnte
es noch schwieriger machen, die Ziele der internationalen Gemeinschaft zu
erreichen.“ Es ist kein Geheimnis, dass dieser Eindruck in großen Teilen
der Welt geteilt wird.
Möglicherweise ist auch das Verhalten Russlands und Chinas in der
Syrien-Frage von der Libyen-Erfahrung geprägt: Man will nicht zulassen,
dass die Nato-Mächte im Windschatten der „Schutzverantwortung“ ihren
Einflussbereich im Nahen Osten immer weiter ausdehnen. Die Menschen in
Syrien bezahlen für dieses erzwungene Nichthandeln.
## Gesellschaftlicher Druck
Wenn es aber diesen Widerspruch zwischen völkerrechtlicher und moralischer
Legitimation gibt, was ist dann höher zu bewerten? Falls wir uns für die
Moral entscheiden – schaffen wir dann nicht das Völkerrecht endgültig ab?
Jedes Recht funktioniert ja nur solange, wie es für alle gilt. Und bedeutet
eine De-facto-Abschaffung des Völkerrechts nicht eine viel größere Gefahr
für eine noch viel größere Zahl von Menschen?
Allerdings: Entwertet nicht auch der Sicherheitsrat das Völkerrecht
permanent, wenn er offenkundige Menschenrechtsverbrechen zulässt und damit
seiner Schutzverantwortung nicht nachkommt, weil ein oder zwei Vetomächte
aus ökonomischen oder geostrategischen Interessen ein Eingreifen ablehnen?
Ganz offensichtlich sind Zusammensetzung und Arbeitsweise des
Sicherheitsrats zwei der Schlüssel, um das Problem für die Zukunft zu
lösen. Das Vetorecht gehört abgeschafft, die Zusammensetzung verändert.
Erst dann wird bei Entscheidungen des Gremiums Legalität und Legitimität in
Einklang zu bringen sein. Allerdings: Mehrheitsentscheidungen gegen die
militärisch Mächtigsten sind nicht viel wert, denn letztlich gilt auch in
der Weltpolitik der Grundsatz: Gespielt wird auf dem Platz, oder nach Mao:
Die Macht kommt aus den Gewehrläufen. Internationale
Normensetzung funktioniert nur dann, wenn die mächtigsten Staaten sich
daran halten, und zwar präventiv und nicht erst dann, wenn Krisen im
Stundentakt Menschenleben fordern. Diktatoren sind nicht erst dann zu
ächten, wenn interne Opposition erstarkt und niederkartätscht wird. Es ist
die Aufgabe von Zivilgesellschaft und Medien, entsprechenden Druck
auszuüben.
11 Mar 2012
## AUTOREN
Bernd Pickert
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.