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# taz.de -- Bürgersprechstunde mit der Kanzlerin: „Der Nächste, bitte“
> Die Kanzlerin hört sich die Sorgen des Volkes an. In Heidelberg wurde vor
> allem die Mittelschicht eingeladen. Und alles geht schnell: zack, zack,
> zack.
Bild: Löst ein Blitzlichtgewitter aus: Die Kanzlerin zwischen Studentin und Ro…
HEIDELBERG taz | Den ersten Coup landet Angela Merkel gleich am Anfang.
Noch bevor die Kameras laufen setzt sie sich zwischen einen Herrn, der im
Rollstuhl sitzt, und eine Jurastudentin. Die Fotografen kugeln fast
übereinander, um den Moment einzufangen. Was für ein tolles Bild für ein
buntes Deutschland.
„Sehen Sie, wenn man sich neben eine hübsche Dame setzt, dann kommen die
schon“, witzelt die Kanzlerin. Alle lachen, sofort hat sie den Saal auf
ihrer Seite. Genau darum geht es dem Kanzleramt an diesem Mittwochabend
beim zweiten „Bürgerdialog“ in der Heidelberger Stadthalle: um schöne
Bilder, um eine sich volksnah gebende Kanzlerin, um die Sorgen der
Menschen. Die da oben redet mit denen da unten. Über Bildung, Gemeinsinn
und Internet.
Sprechstunde fürs Volk, in einer typisch deutschen Stadt – vor ein paar
Wochen Erfurt, jetzt Heidelberg, bald Bielefeld. „Heute sagen Sie mir mal,
was Ihnen wichtig ist“, sagt die Kanzlerin. Knapp 100 Minuten für 100
BürgerInnen. 50 hat die Lokalzeitung ausgelost, die anderen 50 haben
zivilgesellschaftliche Organisationen geschickt.
In der altehrwürdigen Stadthalle ist grauer Teppich ausgelegt, ebenso graue
Bänke formen ein Oval, darüber eine Scheinwerferphalanx. In der Mitte geht
Merkel hin und her. Das Format des „Bürgerdialogs“ ist den
Town-Hall-Meetings aus den USA nachgeahmt.
Schon nach den ersten Minuten ist klar: Dieses Meeting ist sehr deutsch.
Während bei Obama immer Pathos im Saal schwebt, schwebt bei Merkel nur die
Kamera am Schwenkarm. Die Kanzlerin mag und kann keine großen Gesten. Bei
ihr wirkt alles nüchtern, aber auch angenehm unprätentiös. Wenn die Leute
ihre Ideen erzählen, hört sie konzentriert zu, fragt manchmal nach, fasst
das Gehörte knapp zusammen. „Gut, nehmen wir auf“, sagt sie dann. „Der
nächste.“
Als ein älterer Dozent mit Glatze und etwas zu weitem Anzug zu einem
länglichen Monolog anhebt, geht sie dazwischen. Fasst seine Rede mit ein
paar Worten zusammen. „Aha, weniger Verantwortung für die Kammern. Okay,
gucke ich mir an.“ Grinsen auf den Bänken. Merkel ist bekannt dafür,
männliche Eitelkeit schnoddrig auszubremsen. Ihre Schlagfertigkeit kommt
ihr hier zugute.
## Die Mittelschicht bevorzugt
Zwar betont das Bundespresseamt, dass die Organisationen frei wählen
konnten, wen sie schicken. Doch bevorzugt diese Auswahl eindeutig die
Mittelschicht. In der Runde sitzen die Engagierten der Stadt. Die
Erfolgreichen. Und die, die noch Karriere machen werden. Die örtliche
Caritas-Chefin ist da, ein Dachdeckermeister und Exstadtrat, ein
IT-Unternehmer, ein pensionierter Mikrobiologe.
Die rechtswissenschaftliche Fakultät muss geheime Kontakte zur
Veranstaltungsagentur pflegen, anders ist nicht zu erklären, dass sie
gleich ein halbes Dutzend geschliffen formulierender Jurastudenten
entsenden durfte. Alle sitzen gerade und brav, mit dem Moderator vom
Bayerischen Rundfunk wurde vorher diskutiert, ob man sitzen bleibt, wenn
man dran ist.
Es ist so augenfällig wie schade, dass Merkel hier nur mit Bildungsbürgern
redet. Was eine Friseurin oder ein Hartz-IV-Empfänger zu Chancengleichheit
zu sagen hätte, wäre sicher auch interessant gewesen. Und so jemand müsste
auch in Heidelberg aufzutreiben sein, der reichen 145.000-Einwohner-Stadt
am Neckar, in der jeder Fünfte einen akademischen Abschluss hat.
„Die sind alle so erfolgreich und schlau hier“, sagt Carolin Ullrich vor
der Aufzeichnung. Die 16-Jährige ist Schülersprecherin eines Gymnasiums.
Sie hat die blonden Haare zu einem Knoten zusammengesteckt und ihre Hände
zittern ein bisschen, wenn sie die Einladung mit dem eingestanzten
Bundesadler zeigt. Alles ganz schön aufregend.
Ullrich hat Glück. Merkel nimmt sie dran. Es muss mehr
Schüleraustauschprogramme mit dem Ausland geben, mehr Möglichkeiten für ein
freiwilliges soziales Jahr in anderen Ländern, sagt sie. Applaus. Als sie
erzählt, dass ihre eigene Schule mehrere Partnerschulen hat, sagt Merkel:
„Na, das ist ja schon mal gut.“
Nachfragen, ein längerer Austausch ist in diesem Dialog nicht vorgesehen.
Es muss zack, zack gehen, das hat der Moderator vorher allen eingebläut.
Wenn jetzt Zeit für ein Gespräch wäre, würde Merkel erfahren, dass Ullrich
sich selbst nicht die Zeit für ein Auslandsjahr nimmt. Sie will Psychologie
studieren, der Numerus clausus liegt knapp über 1.Viele junge Leute leiden
unter dem Leistungsdruck und haben Angst vor der Zukunft, sagt Ullrich in
der Pause. Sie selbst auch.
Die Kanzlerin wird das leider nicht erfahren.
15 Mar 2012
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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