# taz.de -- Ausstellung kinetischer Kunst: Die Poesie der Bewegung | |
> Anfangs tanzte er selbst, dann ließ er tanzen: Figuren, später | |
> feingliedrige Räder und Reifen. Den kinetischen Künstler und einstigen | |
> "Documenta"-Star Harry Kramer zeigt jetzt das Theaterfiguren-Museum in | |
> Lübeck. | |
Bild: Galt laut Werkverzeichnis als verschollen: Harry Kramers "Gelber Dosenman… | |
LÜBECKE taz | Sein Verhältnis zur Religion hatte Harry Kramer anscheinend | |
klar definiert: „Wenn jeder Trottel versucht, an seiner Schöpfung | |
herumzubasteln, hat Gott Probleme genug. Da will ich ihm nicht zumuten, | |
sich auch noch um mein Leben zu kümmern.“ Sich selbst sah der 1997 | |
verstorbene Künstler durchaus als Schöpfer, als „Gott“ gewissermaßen: Ei… | |
Welt aus Figuren hat er erschaffen, die allesamt ein Geheimnis bergen. | |
Zwar sind es Marionetten, die jetzt das Lübecker Theaterfiguren-Museum | |
zeigt, aber Kramer behauptete hartnäckig, es sei ihm in jener frühen | |
Schaffensphase nicht um Puppen gegangen. Er habe vielmehr ein Theater bauen | |
wollen, das er allein bedienen konnte – und dafür brauchte er Figuren, die | |
sich von selbst bewegten. | |
Das hat funktioniert, wie der nebenbei laufende Film von Sammler und | |
Museumsgründer Fritz Fey zeigt. Ganz frei von tänzerischer Anmutung sind | |
die Figuren aber auch nicht. Denn der einstige Friseur, Schneider und | |
US-Kriegsgefangene, der verhinderte Schauspieler Harry Kramer, geboren 1925 | |
in Lingen (Ems), tanzte einst selbst. Doch, für Tanz interessiert hat er | |
sich, und vor allem: für Choreographie, für die gleichermaßen mathematische | |
wie poetische Ästhetik von Bewegung. | |
Ihr galt seine lebenslange Recherche, deren Höhepunkt, mithin sein | |
Markenzeichen die automobilen Zahnrad- und Reifen-Skulpturen waren, mit | |
denen Kramer neben Jean Tinguely, Jesñs Rafael Soto und Günther Uecker im | |
Jahr 1964 auf der Documenta III in Kassel reüssierte. | |
Die Rad-Gebilde in der Lübecker Ausstellung nun wirken auch aus der Nähe | |
wie aus Draht. Etliche von ihnen bestehen aber aus bemaltem Holz. Ein | |
bisschen Augenzwinkern, ein bisschen Täuschung, ein bisschen Theater musste | |
offenbar schon sein. Und ein bisschen Laterna Magica, Camera obscura: Was | |
sonst sind Kramers raffiniert-verspielte Filme wie „Die Schleuse“, in denen | |
seine Figuren die Protagonisten sind? | |
Da drehen und wenden sie sich, Männchen und Weibchen, durch Rädchen oder | |
Wippen oder geheime Motörchen angetrieben, kommen einander näher, streiten, | |
trauern – als wären sie lebendig. Oder Kindertheater, so banal wie surreal. | |
Kindisch war aber nicht, was Kramer tat: Seine Filmfiguren tanzen immer | |
wieder zu Jazz oder Konkreter Musik. | |
Um das Verhältnis von Körper und Raum ging es bei Kramers Live-Aufführungen | |
und in seinen Filmen, deren Figuren aussehen wie ein Zwitter aus | |
afrikanischer Maske und Joan Miró, die aber auch einem Kinderbild | |
entsprungen sein könnten. | |
Was nun das Besondere an der Lübecker Ausstellung ist? Dass etliche von | |
Kramers frühen Figuren jahrzehntelang für verschollen gehalten wurden – bis | |
die Sammlung von Fritz Frey im vergangenen Jahr endlich systematisch | |
katalogisiert wurde. Da fanden sich unter den 30.000 Puppen auch einige | |
frühe von Harry Kramer, die teils nicht einmal in dessen Werkverzeichnissen | |
auftauchen. Zum Beispiel Maria und Joseph sowie die Heiligen Drei Könige. | |
Oder den majestätischen Greis im Prunksessel, der das Geschehen | |
interessiert beäugt. | |
Einige dieser Figuren hatte Kramer speziell für seine Frau angefertigt. Es | |
sind sehr private Funde, und sie zeigen die figürlichen Anfänge des später | |
eher abstrakten Künstlers. Beide Schaffensphasen eint seine Suche nach dem | |
Funktionieren von Bewegung – letztlich die Frage danach, ob die Dinge | |
selbst- oder fremdgesteuert sind. Und ob dazu Intellekt und Bewusstsein | |
nötig sind. | |
Was einen zu Heinrich von Kleist bringt, der in seinem Essay „Über das | |
Marionettentheater“ fragt: Wie ist vollendete Anmut möglich? Und lässt | |
sich, könnte man weiterfragen, auch so etwas wie die Anmut der Perspektive | |
definieren? Und hat der kinetische Künstler Kramer eben das womöglich sehr | |
überzeugend getan, indem er selbst sich gleichfalls als Objekt, als Figur | |
definierte, und das noch dazu mit einer guten Portion Humor? Nicht zufällig | |
hat er zum Beispiel die nun in Lübeck zu sehende „Porträtbüste Harry | |
Kramer“ geschaffen: ein Selbstporträt aus Pappmaché, das nicken sollte, | |
würde eine Münze eingeworfen. | |
Geschont hat er sich auch sonst nicht: Kurz nach seiner Berufung als | |
Professor für Bildhauerei an die Kunstakademie Kassel, 1971 war das, ließ | |
Kramer sich für zwei Wochen in einem Ausstellungsraum in einer Zelle mit | |
vergitterten Fenstern einmauern. Er wollte sich ohne „Insignien der Elite“ | |
dem Publikum ausliefern. Auch das funktionierte: Vom Bespucken bis zum | |
Füttern samt vergeblichem Befreiungsversuch sei alles vorgekommen, ist zu | |
hören. | |
„Ich kann kein Kunstwerk unabhängig von seiner Wirkung denken“, hat Kramer | |
mal gesagt, und da ist man, wenn der Mensch selbst Kunstwerk sein kann, | |
flugs beim Aktionskünstler Joseph Beuys angekommen. Und schon existiert | |
auch der Kontrast nicht mehr zwischen Kramers angeblich nicht als Puppen | |
gemeinten Figuren und ihrer Entourage nun in Lübeck: Die besteht nämlich | |
aus Marionetten, Stockpuppen und Schattenfiguren von Indien über China bis | |
nach Afrika und Deutschland. | |
Ein Haus voller Mythen, Musik und Geschichten ist dieses Museum, so | |
märchenhaft wie surreal. Und da ist Kramers „Mechanisches Theater“ | |
eigentlich nur die Fortsetzung dieser Tradition mit moderneren Mitteln. | |
15 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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