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# taz.de -- Montagsinterview mit Sebastian Nitsch: "Der alltägliche Wahnsinn"
> Im Friedrichshainer Zebrano-Theater steigt im April die Premiere von
> Sebastian Nitschs erstem Soloprogramm "Unsterblichkeitsbatzen". Beworben
> wird es als "Komik zwischen Feingeist und grober Leberwurst".
Bild: „Ich nutze die Erfahrungen aus der Werbebranche, weil ich eine große �…
taz: Herr Nitsch, Sie nennen sich „Alltagsphilosoph“ und „Hellwachträume…
gehen mit einem „rasterelektronenmikroskopischem Blick fürs Detail“ durch
die Welt und machen daraus Nummern für die Bühne. Können Sie diese hübschen
Formulierungen etwas genauer erklären?
Sebastian Nitsch: Gern. Aber können wir uns nicht duzen? Ich sieze nur
Publikum, vor dem ich Angst habe, weil es sehr alt ist oder sehr gediegen.
Weil weder das eine noch das andere der Fall ist, sollten wir uns unbedingt
duzen. Sebastian, kannst du also den „rasterelektronenmikroskopischen
Blick“ genauer erklären?
Das heißt nichts anderes, als dass ich stehen bleibe und die Dinge, die uns
umgeben, ernst nehme und mir genau angucke. Ich glaube, wir sind alle sehr
beschleunigt im Leben und dauernd in Bewegung. Wir werden ständig dazu
verführt, auf vieles zu gucken, was wir gar nicht brauchen. Wir nehmen im
Fernsehen Anteil an dem Zebra, das Durchfall hat und um das sich der
Tierpfleger rührend kümmert. Wir sollten uns aber vielmehr fragen, wie es
uns geht, und nicht, wie es dem Zebra geht.
Du trittst mit einem Synthesizer auf und erzählst zum Beispiel davon, wie
Frauen in Supermärkten „systematisch beleidigt, erniedrigt und auf ihre
Mängel reduziert werden“, weil Aufdrucke auf Shampooflaschen ihr Haar als
„strohig, platt, strukturgeschädigt, glanzlos oder leicht nachfettend“
bezeichnen. Wie kommst du darauf, daraus eine Nummer für die Bühne zu
machen?
Zuerst fällt mir etwas auf, was mich als seltsam anspringt. So war es auch
bei der Beobachtung: „Na nu!, auf den Shampooflaschen stehen ja
Beleidigungen!“
Wo hat dich diese Erkenntnis ereilt?
Ich saß auf dem Klo im Badezimmer meiner Freundin, sah die Shampooflaschen
und habe gemerkt, dass die Aufdrucke die Frauen in die schwierige Situation
bringen, sich zu entscheiden, ob sie brüchiges, strapaziertes, brüchiges
oder rasch nachfettendes Haar haben. Frauen gehen also in den Supermarkt
und müssen sich die Beleidigung aussuchen, die am ehesten zu ihnen passt.
In dem Moment habe ich die Nummer schon am Wickel – und eine Einsicht, die
ich mit anderen Menschen teilen kann.
Du hast Mathematik, Physik, Linguistik und Publizistik studiert. Konntest
du dich nicht entscheiden?
Ich bin immer einem Gefühl gefolgt und wusste, wo ich hinwill. Bei Mathe
und Physik bin ich einer Seite in mir nachgegangen, die sehr analytisch
ist, wo es um Aussagelogik geht und auch darum, die Dinge ganz nah zu
betrachten und Gedanken zu Ende zu führen.
Aber du hast keinen der Studiengänge zu Ende geführt.
Man kann sagen, dass ich mir ein Studium generale zusammengeklaubt habe.
Du bist dann als Texter in die Werbebranche gegangen. Woher kam das
Bedürfnis, dich auf die Bühne zu stellen?
Dieses Bedürfnis habe ich vorher schon stark ausgelebt, weil ich die
Werbeagenturen zu meiner Bühne gemacht habe, indem ich die Leute zugetextet
habe. Das mit der Bühne hat sich aus dem Material ergeben, das ich hatte.
Was war das für Material?
Fragmente aus vielen Jahren, umherfliegende Ideen und Schubladen voller
Zettel. Ich habe Filme gedreht, Comics gezeichnet, geschrieben – und das
war sehr unbefriedigend. Wenn mich jemand gefragt hätte, was ich mache,
hätte ich den Fragesteller nur als verfrühten Nachlassverwalter in mein
Zimmer holen können. Irgendwann hatte ich dann einen gedanklichen
Durchbruch.
Aha!
Mir wurde klar, dass man alles, was man macht, auf den einen Gedanken
dahinter eindampfen muss. Früher hätte man gesagt, ein Aphorismus. Heute
heißt das Gag, also eine überraschende Einsicht. Ich habe das ganze
Material in eine Word-Datei überführt und eine Tabelle mit mehreren
Kategorien angelegt: „Was ist seltsam an?“, „Was ist die überraschende
Einsicht?“ usw. Dann habe ich die Gedanken weitergesponnen und systematisch
in eine Ideenmatrix gebracht.
Was war die letzte Beobachtung, die du mit deinem
„rasterelektronenmikroskopischen Blick“ eingefangen hast?
Gestern habe ich einen Kaugummi gesehen, auf dessen Verpackung „Wellness
and Balance“ stand. Kaugummi wird aus dem gleichen Material hergestellt,
aus dem auch Plastiktüten gemacht werden, und mit irgendwelchen
Geschmäckern versetzt. Ich fand es absurd, dass wir etwas, was wir nicht
mal nachkochen können, kaufen und dann noch das Versprechen „Wellness and
Balance“ gelten lassen.
Du arbeitest neben der Bühne als Texter für Werbeagenturen. Theoretisch
könnte der Spruch von „Wellness and Balance“ also von dir stammen. Beißt …
nicht die Hand, die dich füttert?
Ich habe mit Sicherheit Versprechen verzapft, die die Produkte nicht
einhalten, die aber zumindest bedeutungsmäßig damit verbunden werden
konnten. Als Werbetexter habe ich das Credo gehabt, man muss die Wahrheit
genau kennen, um gut lügen zu können. Ich nutze die Erfahrungen aus der
Werbebranche, weil ich eine große Ähnlichkeit zur Bühne sehe.
Wo denn?
In der Werbung sitzt man manchmal leer und ratlos vor einem Produkt und
muss etwas finden, woraus man etwas spinnen kann, was die Leute überzeugt,
das Produkt zu kaufen. Diese Suche nach dem einen Gedanken, der das Produkt
ausmachen könnte, ist durchaus verwandt damit, sich vor eine Sache zu
stellen und sie ganz, ganz lange anzugucken. So wie die eingetretenen
Kaugummis auf dem Boden am Hackeschen Markt. Bei denen ist mir irgendwann
aufgefallen, dass da das Erbgut der Leute drin ist, die sie ausgespuckt
haben. Die Kaugummis sind also kleine unzerstörbare Grabhügel.
An welchen Orten findest du den alltäglichen Wahnsinn?
Der Supermarkt ist ein guter Ort, weil wir dort die Gleichung im Kopf
haben: „Ich zahle dafür, da muss es auch in Ordnung sein.“ Dann darf ein
Schokoriegel auch Spuren von Erdnüssen enthalten. Wenn uns aber jemand was
kocht und sagt, das Essen im Topf enthält Spuren von dem Gericht, was
vorher darin gekocht wurde, sind wir irritiert. Wir kaufen der Verpackung
also etwas ab, was wir Menschen so nicht abkaufen würden.
Zwischenmenschliches ist ein weiteres sehr anregendes Thema. Ich behandle
auch gern das kleine, kurzsichtige Glück.
Ach, das kleine Glück ist kurzsichtig?
Ja, es ist sehr kurzsichtig, und wir gehen oft achtlos über das kleine
Glück hinweg. Wir müssen auf das kleine Glück zugehen und stillstehen,
damit es uns mit seinen suchenden Händen findet. Es liegt an uns, dieses
kleine Glück zu uns zu lassen. Ich hatte in meinem Leben lange große
Schwierigkeiten, das kleine Glück gelten zu lassen. Ich bin immer sehr nach
vorne gejagt und habe kaum gewürdigt, was ich schon erlebt hatte.
Hatte das mit der Werbebranche zu tun?
Ja, die Werbung ist eine geeignete Welt, um ganz schön Gas zu geben. Es ist
eine große Energie in meinem Wesen, die mich zeitweise auch meinen Körper
vergessen ließ. Ich aß unregelmäßig und wunderte mich über
Stimmungswechsel. Es musste mir erst schlecht gehen, bis ich gemerkt habe,
dass ich nicht in einer Raketenkapsel sitzen will, die zwar immer weiter
vorankommt, aber nicht landen kann.
Wann hast du das kleine, kurzsichtige Glück zuletzt wahrgenommen?
Als ich mich heute von meiner Freundin verabschiedet habe, hat es seinen
kleinen Zeigefinger ausgestreckt, auf diese Frau gezeigt, und ich wusste,
dass ich ein sehr glücklicher Mensch bin.
Oh, das ist ja herzallerliebst. Da würden jetzt viele Frauen im Publikum
vor Rührung seufzen.
Ich will aber auch nicht, dass wir alle stillstehen, um das kleine Glück am
Bürotisch zu würdigen, während der Chef die Präsentation bis zum nächsten
Morgen im Eingang haben will. Es kann einem jedoch zwischendurch einfach
bewusst sein, dass irgendetwas, das uns glücklich machen kann, immer da
ist.
Reagieren Männer und Frauen eigentlich unterschiedlich auf deine
Beobachtungen des Alltags?
Ja, sehr. Männer sind oft reservierter, und Frauen haben aus meiner Sicht
weniger Barrieren, um zu reagieren. Sie sind offener, lachen, gehen mit,
und in der Tat entschlüpft ihnen öfter mal ein „Oh“. Sitzt ein Mann neben
einer Frau, wird sie oft von ihm beobachtet. Wenn sie lacht, dann ist das
für ihn die Erlaubnis oder vielleicht auch die Pflicht, ebenfalls zu
lachen. Frauen haben mir zum Beispiel Mails geschickt, dass ihre Freunde
tatsächlich die Aufdrucke auf Shampooflaschen überklebt haben.
Kommt da der Werbemensch in dir nicht sofort auf die Idee, selbst
entworfene Etiketten unter das Publikum zu bringen?
Ja, unbedingt. Bei den Soloshows, die jetzt anfangen, biete ich Etiketten
an, die man als kleine Erinnerung an den Abend mitnehmen kann.
Ist es dir schwer gefallen, den recht guten Verdienst in einer Werbeagentur
gegen ein unsicheres Bühnendasein einzutauschen?
Das war ein Prozess. Ich habe lange geschrieben, um für mich Sicherheit zu
haben. Dann ging es erfreulich gut voran, und ich bin in der Werbung auf
Teilzeit gegangen. Bald darauf wurde ich freier Texter, was ich bis heute
immer mal wieder mache. Ich würde es ganz loslassen, wenn mich die Bühne
ganz finanzieren würde. Aber mit dem Texten kann ich mir Freiheit auf der
Bühne erkaufen.
Weil du dann nicht unter dem Druck stehst, dir mit den Auftritten die Miete
verdienen zu müssen?
Ja, statt unter finanziellem Erfolgsdruck zu stehen, kann ich einfach
sprudeln und gucken, ob es gelingt. Seit einiger Zeit arbeite ich mit einer
Agentin, und da gibt es auch wirtschaftliche Ziele. Aber wenn ich 2013
nicht von der Bühne leben kann, werde ich einfach weiter nebenher texten.
Du trittst erst seit Sommer 2010 auf und hattest vor Kurzem die Vorpremiere
deines ersten Soloprogramms. Bist du vom Erfolg überrascht?
Ich freue mich zu sehr, um überrascht zu sein. Freude über den Erfolg ist
der Rückenwind für meine Entdeckungsreise. Das war von Anfang an so: Von
Mittwoch bis Sonntag kann man in Berlin auf offenen Bühnen stehen. Als ich
merkte, dass die Reaktionen gut waren und es mir Spaß machte, bin ich jeden
Abend zu offenen Bühnen gegangen und habe das gelebt. Irgendwann fühlte es
sich so gut an, dass ich dem weiter gefolgt bin. Es reitet mich aber auch
der Wunsch, mit meinen Beobachtungen nicht allein zu sein.
Weil man sonst durchdrehen könnte?
Wenn man sehr nah an Themen rangeht, laufen übergroße Beobachtungen Gefahr,
dass sie sich nach Wahnsinn anfühlen. Wenn man die aber mit Leuten teilt
und sie lachen, weil sie etwas aus ihrem Leben wiedererkennen, entspannt
sich alles wieder. Sieht man das alles zu streng, kann man sehr schnell auf
große, systemkritische Gedanken kommen.
Und müsste, wenn man ganz konsequent wäre, sich von dieser Welt abwenden
und zum Aussteiger werden?
Ja. In dem Augenblick, in dem man stehen bleibt und etwas genauer anschaut,
sieht man automatisch Dinge, die uns Menschen nicht dienen. Ich trage in
mir aber nicht den Wunsch, auszusteigen oder etwas zu predigen. Das ist mir
zu anstrengend. Die Bühne hilft mir, eine gewisse amüsierte Entspannung
reinzukriegen. Wenn man etwas mit einem komischen Blick sieht, kommt man
besser damit klar. Es ist ein großes Gefühl, wenn sich Leute im Theater
oder wo auch immer zusammenschließen und einfach nur darüber lachen, wie
schräg die Welt ist, zu der wir jeden Tag „Ja“ sagen.
Kann man dich mal schnell in den Supermarkt schicken, wenn eine Zutat beim
Kochen fehlt?
Für einige Nummern bin ich bewusst Supermarktgänge abgelaufen und habe
dabei in mein Handy gesprochen. Aber ich bin durchaus in der Lage, ganz
normal einkaufen zu gehen. Immer wach zu sein, ist auch anstrengend.
Als Texter willst du Produkte an den Mann bringen. Was willst du als
Künstler auf der Bühne bei den Menschen erreichen?
Ich freue mich, wenn die Leute lachen. Oft wird Lachen aber missverstanden
als einziger Widerhall auf eine gute Nummer. Es ist genauso gut, wenn die
Leute zuhören und nach der Show jemand kommt und sagt, er habe an Zwieback
mit Butter gedacht, den die Oma immer gemacht hat, weil ich vom
Pferdehaarsofa meiner Oma erzählt habe. Ich möchte die Leute anstecken mit
dem Stillstehen und Gucken. Es beglückt mich, wenn sie Kundschafter im
eigenen Leben werden!
18 Mar 2012
## AUTOREN
Barbara Bollwahn
Barbara Bollwahn
## TAGS
Liedermacher
## ARTIKEL ZUM THEMA
Liedermacherin in Berlin: Von Kugelkörpern und Tierliebe
Gegen soviel Freundlichkeit kann man sich kaum wehren. Fee Badenius tritt
am Freitag und Samstag in Friedrichshain im Zebrano-Theater auf.
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