# taz.de -- Paul Nolte über Piraten und Wutbürger: „Größter Umbruch seit … | |
> Der Historiker Paul Nolte glaubt nicht an die These von der | |
> Politikverdrossenheit. Der Wandel weg von der Parteiendemokratie sei | |
> vielmehr ein Indiz für ein gewachsenes Interesse an Politik. | |
Bild: Nicht mehr nur die Jugend geht auf die Straße: Protest in Stuttgart Mitt… | |
taz: Herr Nolte, Stuttgart 21, Piratenpartei, zurückgetretene | |
Bundespräsidenten: Erleben wir derzeit eine Krise oder eine Vertiefung der | |
Demokratie in Deutschland? | |
Paul Nolte: Ein großes Interesse an Politik! Man hört ja immer wieder, wir | |
würden im Zeitalter der Apathie, des Desinteresses an Politik leben. Für | |
eine Entpolitisierung kann ich aber weit und breit keine Anzeichen | |
erkennen. Ich sehe viel eher neue Handlungs- und Artikulationsformen in der | |
Demokratie. | |
Gleichwohl beobachten wir eine wachsende Skepsis gegenüber etablierten | |
Parteien und staatlichen Institutionen. Womit hängt das zusammen: | |
Populismus, Mediengesellschaft, tatsächliche Missstände? | |
Der Wandel weg von Parteiendemokratie, repräsentativer Demokratie und | |
Parlamenten ist ein langfristiger Trend. Das hat mit unseren gewachsenen | |
Ansprüchen zu tun. In der Nachkriegssituation war man in der Bundesrepublik | |
zufrieden, eine „Minimaldemokratie“ - wie sie etwa Joseph Schumpeter | |
klassisch definierte - zu sichern. Also: Wir dürfen unsere Vertreter wählen | |
und sie alle vier Jahre abwählen oder im Amt bestätigen. Heute wollen wir | |
dauernd genau hinschauen. Das ist Ausdruck eines gewachsenen Anspruchs auf | |
Transparenz und Mitgestaltung. | |
Zuletzt war viel von „Wutbürgern“ die Rede, weniger vom schlechten | |
Regieren. Aber die ENBW-Atomdeals der CDU in Baden-Württemberg oder die | |
gigantischen Fehlprojektierungen bei Stuttgart 21 waren doch keine | |
Kleinigkeiten? | |
Sicher nicht. Aber die Politiker, insbesondere Regierungspolitiker und | |
Abgeordnete, stehen heute kräftig im Kreuzfeuer der Kritik. Insofern: | |
Natürlich ist vom schlechten Regieren die Rede, tagtäglich! Auch der | |
frühere Bundespräsident musste sich da einiges gefallen lassen. Und dann | |
blicken wir auf die Bürger, die sich erregen und engagieren, die Schuhe | |
hochhalten oder was immer. Wutbürger ist kein Schimpfwort, eher ein | |
Ausdruck des Erstaunens … | |
… mit einem irrationalen Klang und Beigeschmack. | |
Ja, ein bisschen und ein Stück auch zu Recht. Das Wort beinhaltet die | |
Frage, was aus dieser Wut politisch wird: mit Verantwortung für die Folgen | |
und in Institutionen. Protestieren ist ein Schritt. Auf den Wutbürger muss | |
aber der Tubürger folgen, der etwas tut und macht. | |
Man könnte sagen: An irgendetwas zweifelt der Bürger immer. Doch ist die | |
Skepsis gegenüber der ratlosen Politik angesichts der angehäuften | |
Schuldenberge nicht auch gerechtfertigt? | |
Entscheidungen wie in der europäischen Schuldenkrise sind nicht leicht, da | |
darf man sehr wohl einmal ratlos oder zögernd sein. In Demokratien sollte | |
man von Politikern mehr als selbstgewisses Reden erwarten. Eine | |
komplizierte Materie wie die Schuldenkrise wird man nicht mit Mitteln der | |
direkten Demokratie oder des Straßenprotests lösen können. Dafür brauchen | |
wir nationale Regierungen und europäische Institutionen, die demokratisch | |
legitimiert sind. Auf die derzeitige Krise muss eine Vertiefung der | |
europäischen Integration folgen. Und ich bin sicher: Das kommt. | |
Demokratie ist ein qualitativer Prozess. Was sollen Bürger von Politikern | |
denken, denen ihre Spitzenämter mit Mitte 50 zu anstrengend werden und die | |
öfters in die Wirtschaft wechseln? | |
Im Prinzip drückt sich darin ein anderes Lebensmodell aus. Politiker ist | |
man nicht mehr unbedingt ein Leben lang, man hat auch noch anderes vor. Wir | |
sollten ehrlich sein: entweder lebenslang Politiker oder mindestens | |
lebenslange Versorgung, damit man sich danach nicht mehr die Finger in der | |
Wirtschaft schmutzig macht und die Gefahr gebannt wird, dort politische | |
Kontakte auszunutzen. Oder wir erwarten, wie jetzt von Christian Wulff, | |
dass er wieder ein ganz normaler Bürger wird, seine Brötchen verdient statt | |
lebenslang den „Ehrensold“ zu verspeisen. Dann dürften wir uns aber nicht | |
beschweren, wenn er morgen bei Gazprom als Kollege von Gerhard Schröder | |
oder bei Bilfinger als Kollege von Roland Koch auftaucht. Was ich aber viel | |
bedenklicher finde, ist, dass viele zu früh mit der Politik als Beruf | |
anfangen. Vom Praktikum über die Referentenstelle bis zum eigenen | |
Wahlkreis, den man dann erst mit 75 wieder rausrückt. Davon müssen wir | |
wegkommen. | |
Demokratie hat auch eine soziale Komponente. Müsste der Liberalismus in der | |
Lohngestaltung nicht eingedämmt werden: Obergrenzen zum Beispiel für | |
Managergehälter festgelegt und auch die erzielten Gewinne stärker besteuert | |
werden? | |
Ich meine, dass das größte soziale Problem der Demokratie nicht die | |
anonymen Kräfte des Finanzkapitalismus oder des globalen Kapitalismus sind, | |
durch die sich viele Bürger an die Wand gedrückt fühlen. Sondern es ist die | |
zunehmende Ungleichheit, die wir in den westlichen Gesellschaften seit | |
zwei, drei Jahrzehnten erleben. Das Auseinandergehen der Schere zwischen | |
dem Lohn- und dem Kapitaleinkommen. Man muss dabei gar nicht immer auf die | |
Einkommensmillionäre schauen oder auf die wenigen DAX-Vorstände. Wenn man | |
die Möglichkeiten der oberen Mittelklasse, also von denen, die 100.000 oder | |
200.000 Euro im Jahr verdienen, mit denen der Marginalbeschäftigten und | |
Unterqualifizierten vergleicht, stößt man auf ein großes Demokratieproblem. | |
Da könnte das ein oder andere Steuerprozent mehr nicht schaden. Ob wir mit | |
einer Deckelung der Managerbezüge viel erreichen würden, kann ich nicht | |
sagen. Nachvollziehen kann ich die Millionengehälter jedenfalls nicht. | |
Anders als in vielen anderen europäischen Staaten hat in Deutschland | |
bislang keine rechtspopulistische Kraft von den Krisen profitieren können. | |
Alle neueren Kräfte in westdeutschen und jetzt deutschen Parlamenten wie | |
Die Grünen, Linkspartei oder nun die Piraten stehen eher links. Womit hängt | |
dies zusammen? | |
Das ist spannend. Deutschland ist damit in gewisser Weise ein Sonderfall in | |
der westlichen Welt. Einschließlich der CDU scheint die politische | |
Landschaft nach Mitte-links gerückt zu sein. Grüne und Piraten sind zwar | |
Teil globaler Bewegungen, aber nirgendwo sonst sind die Grünen so | |
erfolgreich. Für die Piraten zeichnet sich etwas Ähnliches ab. Die | |
Erfahrung des Nationalsozialismus macht hierzulande einen Rechtspopulismus | |
mit breiterer Wirkung bislang unmöglich. | |
Es hat oft den Anschein, dass viele Politiker nach den Ergebnissen von | |
Umfragen ihre Meinungen ändern. So schwenkte die CDU nach Fukushima | |
plötzlich auf Antiatomkurs. Zeigt sich hier ein Mangel an Prinzipien und | |
Glaubwürdigkeit, oder ist es Ausdruck gewachsener Beweglichkeit, von | |
Demokratiewillen und -fähigkeit? | |
Es ist wohl immer beides. Man hat sich schon gewundert, mit welcher | |
Geschwindigkeit die CDU diese Wende vollzog. Aber man darf auch nicht | |
vergessen, dass sich die Partei unter Angela Merkel, also seit zwölf | |
Jahren, in vielen gesellschaftlichen Fragen kontinuierlich modernisiert | |
hat. Mir gefällt das – und doch bedauere ich manchmal, dass das Spektrum | |
der politischen Meinung in einem relativ engen mittleren Bereich | |
zusammenschnurrt. Grüne, SPD und CDU verschmelzen zu einer ideellen | |
deutschen Gesamtpartei. Da kann man fast wieder froh sein, dass es die | |
Linkspartei gibt. Anderswo, wie gerade der US-Wahlkampf zeigt, gibt es | |
stärkere politische Polarisierungen, und es wird essenzieller über | |
Grundfragen von Freiheit, Individuum, Solidarität gestritten. Ich bin kein | |
Freund von Rick Santorum, aber selbst sein Erzkonservatismus ist Teil des | |
demokratischen Spektrums. | |
Nach Umfragen haben Liberale und Konservative seit der Bundestagswahl keine | |
Mehrheit mehr. Die FDP ist in sich zusammengebrochen. Finden Sie es dennoch | |
richtig, dass Angela Merkel unbeirrt die gesamte Legislatur durchregieren | |
will? | |
Ja, absolut. Das ist repräsentative oder genauer: elektorale Demokratie. | |
Sonst würden wir zur Stimmungsdemokratie, in der jede Woche nach Umfragen | |
die Ämter und Mandate neu vergeben werden. Übrigens wäre auch Obama dann | |
nicht mehr im Amt. So kann man keine Politik machen. Doch die | |
repräsentative Demokratie ist nicht mehr so wichtig wie früher. Die | |
Bedeutung des Parlaments wird in den nächsten Jahren weiter abnehmen; | |
andere Formen der Demokratie werden wichtiger. | |
Welche denn? | |
Etwa die direkte Demokratie. Kein Allheilmittel, aber in Abstimmungen kann | |
das Volk direkt über bestimmte Dinge entscheiden und stärker einbezogen | |
werden wie bei Stuttgart 21 oder in Berlin von „Pro Reli“ bis Tempelhof. | |
Und spricht sich dann wie in der Schweiz für ein Minarettverbot aus. | |
Ja, auch das. Das bleibt ambivalent. Demokratie ist insgesamt diskursiver | |
geworden; „deliberativer“, würde Jürgen Habermas sagen. Sie wird immer | |
stärker auch durch Justiz und in Gerichtsverfahren ausgehandelt. Durch | |
Klagen vor dem Verwaltungsgericht oder beim Europäischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte. Das ist, auch wenn damit ein Parlamentsbeschluss angegangen | |
wird, Teil der Demokratie. | |
Wir erleben also eine Vertiefung der Demokratie bei einer Aushöhlung des | |
Parteiensystems? | |
Was die Demokratie betrifft, gewiss nicht einfach eine Vertiefung, aber | |
sicher eine Vervielfältigung. Und im deutschen Parteiensystem keine | |
Aushöhlung, eher ein tief greifender Wandel. Die Grünen reagierten auf den | |
ökologischen Paradigmawechsel und jetzt die Piraten auf den technologischen | |
Wandel, das Internet. Das ökologische Umdenken ist eines der größten | |
Umbrüche unseres Denkens seit dem Siegeszug von Aufklärung und menschlicher | |
Fortschrittsgewissheit im 18. Jahrhundert. Das Internet bezeichnet den | |
tiefsten Kommunikationswandel seit der Erfindung des Buchdrucks. Es wäre | |
doch erstaunlich, wenn sich das nicht auch in politischen Bewegungen | |
niederschlägt. | |
6 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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