# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Manifest einer Revolte | |
> Vor 50 Jahren verfasste eine Gruppe von Studenten in den USA die Port | |
> Huron Erklärung, das Gründungsmanifest der Students for a Democratic | |
> Sodiety (SDS). | |
Bild: Er sei einer der Port-Huron-Unterzeichner erzählt der Dude (Jeff Bridges… | |
Die historischen Darstellungen, die in den letzten drei Jahrzehnten über | |
die rebellischen 1960er Jahre erscheinen sind, würdigen ziemlich | |
übereinstimmend die Rolle der SDS als die einer Speerspitze der radikalen | |
Organisationen, die gegen die Rassendiskriminierung kämpften, gegen den | |
Vietnamkrieg protestierten und ganz allgemein den Ausbruch aus der | |
erstickenden Atmosphäre des Kalten Kriegs wagten. | |
Diese Atmosphäre der Angst vor einer neuen antikommunistischen Hexenjagd | |
(im Stile McCarthys) hatte bis dahin lähmend über den letzten Resten der | |
organisierten Linken gelegen, die noch in Gewerkschaften, Kirchen und | |
Universitäten überdauert hatten. | |
Die SDS waren 1960 gegründet worden. 1962 hielten sie ihren ersten Kongress | |
bei Port Huron ab, das direkt an der Grenze zwischen dem US-Bundesstaat | |
Michigan und Kanada liegt. Der Versammlung lag ein Manifest vor, das von | |
einem Absolventen der University of Michigan, Tom Hayden, entworfen und von | |
einer Arbeitsgruppe überarbeitet worden war. Als „Port Huron Statement“ | |
wurde es verabschiedet. | |
## Reichlich späte Kritik | |
Wer die apokalyptisch gestimmten Zeilen dieser Erklärung heute liest, kann | |
sich des Gedankens kaum erwehren, dass die Verfasser 1962, nach mehreren | |
Jahren des Kalten Kriegs, mit ihren Einsichten ein bisschen spät dran | |
waren. Immerhin war es vierzehn Jahre her, dass Präsident Truman die | |
Militarisierung der US-amerikanischen Nachkriegsökonomie eingeleitet hatte. | |
1950 gab es bereits US-Militärberater in Indochina, fünf Jahre später | |
hatten die USA die politischen Reformen in Guatemala und im Iran in den | |
Staub getreten. | |
Vor allem aber hatte Eisenhower am 17. Januar 1961 in seiner berühmten | |
Abschiedsrede als US-Präsident gemahnt: „Wir müssen auf der Hut sein, damit | |
der militärisch-industrielle Komplex – gewollt oder ungewollt – nicht | |
unvertretbaren Einfluss gewinnt. Das Potenzial für eine verhängnisvolle | |
Konzentration unangemessener Macht existiert und wird weiterhin | |
existieren.“ Überdies warnte Eisenhower vor der Gefahr, „dass das | |
Gemeinwesen als solches zum Gefangenen einer | |
wissenschaftlich-technologischen Elite wird“.(1) | |
Ende der 1950er Jahre setzte im Kalten Krieg in der Tat ein erstes | |
Tauwetter ein, jedenfalls an den Universitäten. An der University of | |
California in Berkeley hatten Studenten 1956 erstmals einen Hungerstreik | |
gegen die obligatorische militärische Ausbildung (Reserve Officers’ | |
Training Corps, ROTC) auf dem Campus organisiert. 1962 stimmte das | |
Kuratorium der Universität schließlich für die Abschaffung des ROTC. | |
## Malcolm X in Berkeley | |
Der ehemalige Aktivist Joe Paff(2) erinnert sich noch gut an die | |
uniformähnlichen Khakihosen und Button-Down-Hemden, in denen die | |
Sprösslinge der wiederauferstanden Mittelklasse damals auf dem Campus | |
herumliefen. „Für die obligatorische militärische Ausbildung mussten die | |
männlichen Studierenden einmal die Woche in richtigen Uniformen zum | |
Exerzieren antreten. Verbindungsstudenten kontrollierten an den Zugängen | |
zum Campus, dass die Kleiderordnung eingehalten wurde. Die Wahlen zur | |
Studentenvertretung galten als Jux. Eine Fakultät, die sich gegen den | |
Fahneneid gewehrt hatte, wurde gesäubert.“ | |
In diesem konformistischen, konservativen Geist hatte die | |
Universitätsleitung angeordnet, dass die Studierenden nicht über „Themen | |
jenseits des Campus“ reden sollten und vor „Agitatoren von außen“ zu | |
schützen seien. Joe Paff lud im Mai 1961 Malcolm X ein, auf dem Campus von | |
Berkeley zu sprechen. Doch die Obrigkeit verbot den Auftritt mit dem | |
Argument, der Redner sei ein Prediger, der die Leute womöglich zum Islam | |
bekehren würde. | |
„Wir fanden dann in letzter Minute noch einen Saal für ihn, in den | |
allerdings nur 160 Leute reingingen“, erinnert sich Paff. „Er war der | |
unglaublichste Redner, den ich je gehört habe, einfach elektrisierend. Er | |
hat das Leben jedes Zuhörers verändert, für immer. Wenn du ihm eine Frage | |
gestellt hast, blickte er dir in die Augen und wiederholte deine Frage, und | |
dann ging er auf sie ein. Bald traute sich niemand mehr, dumme Fragen zu | |
stellen.“ Besonders fasziniert waren die schwarzen Studenten: „Nach kurzer | |
Zeit redete jeder zweite Schwarze wie Malcolm X.“ | |
All das brachte die Ereignisse der 1960er Jahre ins Rollen. Bald zog es | |
viele Studenten in die Südstaaten, wo sie sich in den gewaltfreien | |
Kampagnen des 1960 gegründeten Student Nonviolent Coordinating Committee | |
(SNCC) engagierten. Die Port-Huron-Erklärung entstand also nicht im | |
luftleeren Raum, und entsprechend waren die darin formulierten Ideen auch | |
nicht unbedingt neu. Aber kein anderer linker Text dieser Zeit brachte | |
derart klar und lebendig die Stimmung einer jungen Generation zum Ausdruck, | |
die sich vom öden Konformismus der 1950er Jahre befreien wollte. In diesem | |
Klima hatten selbst Professoren befürchteten müssen, als „Rote“ denunziert | |
zu werden, und ganze sozialwissenschaftliche Fakultäten bemühten sich, die | |
Originaltexte unorthodoxen Denkens in sterilen Anthologien zu verstecken. | |
## Fundamentales Bedürfnis nach Selbstverwirklichung | |
In der Port-Huron-Erklärung äußerte sich eine tief sitzende Angst vor | |
Vereinsamung und Entfremdung. Jenseits der Fragen nach dem Gegensatz von | |
Marktwirtschaft und Sozialismus ging es vor allem um ein fundamentales | |
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, nach Ausschöpfung der eigenen | |
Möglichkeiten – ein Motiv, das offenbar von Paul Goodman, einem der | |
Begründer der Gestalttherapie, inspiriert war. (Der anarchistische Autor | |
hatte mit „Growing Up Absurd“ ein Buch(3) geschrieben, das bei den jungen | |
Linken beiderseits des Atlantiks sehr gut ankam.)( ) | |
Der Abschnitt „The Society Beyond“ beschreibt die Gesellschaft als | |
„entfremdet“, beherrscht von einem falschen Bewusstsein. Die kulturelle | |
Aufgabe der Studenten, die das verstanden hätten,bestehe darin, die reale | |
Verzweiflung hinter den gut bezahlten industriellen Arbeitsplätzen | |
aufzudecken und den Konsumismus als hohl und substanzlos zu entlarven. | |
Über die Gewerkschaftsbewegung heißt es, sie sei von der allgemeinen | |
gesellschaftlichen Apathie erfasst. Ihren Anführern wird vorgehalten, dass | |
sie die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx nicht gelesen | |
hätten, in denen die verschiedenen Formen der Entfremdung dargestellt | |
werden. Zudem gibt es in der Erklärung auch einige Absätze zum Thema | |
Ökonomie: „Der amerikanische Kapitalismus betrachtet sich heute als | |
’Wohlfahrtsstaat‘. Viele von uns gehen wie selbstverständlich davon aus, | |
dass wir in den Genuss von Pensionen, Gesundheitsversorgung, | |
Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen kommen werden.“ | |
Die Erklärung zeichnet das Bild einer Gesellschaft wohlhabender Bürger, | |
denen die Existenz von armen Menschen großes Unbehagen bereitet. Das alles | |
klingt heute fast utopisch. Doch der Optimismus dieser Sätze verweist auf | |
einen wichtigen Punkt: Die Verfasser hatten – trotz ihrer einleitenden | |
pessimistischen Bemerkungen – in Wahrheit wenig Gespür für die | |
Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Ein Mangel an Voraussicht, der auf | |
fast alle wichtigen Ökonomen jener Zeit zutraf. | |
## Rufer in der Wüste der Gleichgültigkeit | |
Erst sieben Jahre später (1969) erreichten die Gratifikationen, die der | |
Kapitalismus der US-amerikanischen Arbeiterklasse (genauer gesagt, deren | |
oberem, meist weißem Drittel) gewährte, ihr höchstes Niveau, sowohl bei den | |
Löhnen als auch bei den Wohlstandsattributen: große, schmucke Autos, | |
Zweitwagen für die Ehefrau, die damals noch nicht arbeiten gehen musste, | |
sowie arbeitssparende Haushaltsgeräte, Pensionen, Gesundheitsleistungen und | |
(ab 1965) eine allgemeine Krankenversicherung für Rentner (Medicare). Doch | |
mit Beginn der 1970er Jahre ging es mit alledem bergab. | |
Das stärkste Kapitel in der Erklärung ist dasjenige über den | |
„militärisch-industriellen Komplex“, das sich mehr an Eisenhower orientiert | |
denn an Goodman. Unter dem Titel „Alternativen zur Hilflosigkeit“ wird die | |
Strategie entwickelt, wie engagierte Studenten überall im Lande, in dieser | |
gigantischen Wüste der Apathie und des selbstzufriedenen Materialismus, für | |
einen politischen Wandel kämpfen können: „Ausgehend von Schulen und | |
Universitäten […] könnte eine militante Linke ihre Verbündeten aktivieren�… | |
(wobei unklar blieb, wer genau diese Verbündeten sein sollten). | |
Diese neue Linke, heißt es weiter, müsse das Gefühl der Hilflosigkeit und | |
Gleichgültigkeit aufgreifen und so umwandeln, dass die Leute „die | |
politischen, sozialen und ökonomischen Ursachen ihrer privaten Probleme | |
erkennen können“. Der Weg zur politischen Macht führe auf lokaler, | |
nationaler und internationaler Ebene über die Kooperation zwischen der | |
„neuen Linken der jungen Generation und einer erwachenden Gemeinschaft von | |
Verbündeten“. Die Antwort auf alle offenen Fragen bestehe demnach in einer | |
„partizipatorischen Demokratie“, wie sie der Soziologe C. Wright Mills | |
vorgeschlagen hatte.(4) | |
Der Optimismus, mit dem die Port-Huron-Erklärung beispielsweise mithilfe | |
von tausenden Atomkraftwerken nicht nur billige Energie erzeugen, sondern | |
auch den Militarismus besiegen wollte, bringt uns fünfzig Jahre später eher | |
zum Schmunzeln. Verblüffend ist auch die Angst vor einem wiedervereinigten | |
Deutschland, die mit dem Glauben an die Dauerhaftigkeit der Berliner Mauer | |
und des Kalten Kriegs einhergeht.(5) Dasselbe gilt für die naive | |
Vorstellung, die USA sollten so großzügig sein, ihre technologischen | |
Errungenschaften mit allen zu teilen, und damit die „Industrialisierung der | |
Welt“ ermöglichen. | |
Das weitere Schicksal der Students for a Democratic Society, die sich 1969 | |
in mehrere Splittergruppen auflösten, soll hier nicht erörtert werden. In | |
den einschlägigen historischen Darstellungen wird die Bedeutung der SDS oft | |
überschätzt, vor allem wenn man sie mit den schwarzen | |
Bürgerrechtsorganisationen wie dem SNCC (Student Nonviolent Coordination | |
Committee) oder auch den Black Panthers vergleicht, deren Anführer nicht | |
die Möglichkeit hatten, als wohlbestallte akademische Historiker die | |
Geschichte ihrer Kämpfe zu verfassen – zumal viele von ihnen von Polizisten | |
umgebracht wurden. | |
## Das Ende einer organisierten Linken | |
Und was wurde aus dem Mann, der den ersten Entwurf der Erklärung verfasst | |
hat? Tom Hayden begann 1964 in New Jersey mit Jugendlichen und armen | |
Familien im Rahmen des Newark Community Union Project zu arbeiten. 1972 | |
machte er mit Jane Fonda, die er ein Jahr später heiratete, einen | |
aufsehenerregenden Besuch in Hanoi. Ende der 1970er Jahre ging er in die | |
Politik und wurde zunächst ins Parlament und dann in den Senat von | |
Kalifornien gewählt, wo er verschiedene soziale und ökologische Projekte | |
durchbrachte. | |
Im letzten Jahr haben wir die Entstehung einer neuen Protestbewegung in den | |
USA erlebt: In New York, Oakland und vielen anderen Städten wurde | |
demonstriert und in Zelten genächtigt, Banken werden belagert. Doch Occupy | |
(Wall Street) knüpft weder intellektuell noch organisatorisch tatsächlich | |
an Bestehendes an. Die SDS bezogen sich auf die Ideenwelt des jungen Marx, | |
Ende der 1960er Jahre entdeckte man außerdem noch Frantz Fanon als | |
Theoretiker des antikolonialen Kampfes, den Pädagogen Paolo Freire und den | |
Ökonomen Gunnar Myrdal. | |
Heute lässt sich kaum eine Kontinuität zwischen SDS und Occupy erkennen, | |
was natürlich auch damit zu tun hat, dass sich der US-amerikanische | |
Kapitalismus weiterentwickelt hat und dass eine organisierte Linke fast | |
nicht mehr existiert. Ein wichtiger Unterschied kommt noch hinzu: Die | |
Verfasser der Port-Huron-Erklärung sahen sich als kleine Fackel einsamen | |
Widerstands in der stockdunklen Nacht amerikanischer Selbstgefälligkeit. | |
Die Occupy-Bewegung begreift sich als Vertreter von 99 Prozent der | |
Bevölkerung, die sich gegen das eine Prozent zur Wehr setzt. | |
Fußnoten: | |
(1) Der Redenschreiber Eisenhowers, der Texaner Ralph Williams, hatte in | |
den ursprünglichen Entwurf eine Warnung vor Studentenkrawallen | |
hineingeschrieben, die er als Bedrohung „geordneter Gesellschaften“ | |
schilderte. Doch die Stelle wurde später aus dem Skript gestrichen. | |
Eisenhowers Abschiedsrede ist nachzulesen unter: | |
[1][mcadams.posc.mu.edu/ike.htm]. | |
(2) Joe Paff engagierte sich nach seinem Studium insbesondere für die | |
Rechte der kalifornischen Landarbeiter, später lehrte er Politische | |
Wissenschaft in Toronto und Stanford; 1980 gründete er das alternative | |
Kaffeeprojekt „Gold Rush Coffee“. | |
(3) Goodmans Buch erschien 1960; deutsche Ausgabe: „Aufwachsen im | |
Widerspruch – Über die Entfremdung der Jugend in der verwalteten Welt“, | |
Darmstadt (Verlag Darmstädter Blätter) 1971. | |
(4) C. Wright Mills (1916–1962) lehrte an der Columbia University | |
Soziologie und wurde bekannt durch seine marxistisch inspirierte Analyse | |
der Macht- und Klassenverhältnisse in den USA, insbesondere in seinen | |
Büchern „White Collar: The American Middle Classes“ (1951) und „The Power | |
Elite“ (1956). | |
(5) Diese Darstellung des Kalten Kriegs in der Port-Huron-Erklärung wurde | |
damals von älteren Linksintellektuellen wie Michael Harrington und Irving | |
Howe als naive Unterschätzung des aggressiven Potenzials der Sowjetunion | |
verurteilt, weshalb sie mit den SDS brachen. Die Erklärung markierte damit | |
eine Bruchlinie innerhalb der Linken, wobei die junge Generation gegen Ende | |
der 1970er Jahre so weit ging, das US-Empire als ein Übel zu sehen, das dem | |
der Sowjetunion nicht nachstehe. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
[2][Le Monde diplomatique] vom 9.3.2012 | |
8 Apr 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://mcadams.posc.mu.edu/ike.htm | |
[2] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Alexander Cockburn | |
## TAGS | |
Bürgerrechtler | |
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