| # taz.de -- Proteste in Berlin: Heraus zum 1. Mai? | |
| > Demonstrieren bringt doch eh nichts, finden die einen. Andere wollen nun | |
| > zum ersten Mal dabei sein. Fünf Protokolle aus Berlin anläßlich des 1. | |
| > Mai. | |
| Bild: In totaler Opposition: Transparent zur „Revolutionären 1.-Mai-Demo“ … | |
| ## „Flaschen bringen mir mehr“ | |
| Thomas, 39, geht seit Jahren nicht mehr zum 1. Mai: | |
| „Früher bin ich immer demonstrieren gegangen. Das hat mir nichts gebracht | |
| und wird mir auch nichts mehr bringen. Die Löhne und die Lebensumstände | |
| werden eh nur noch schlimmer. Deswegen gehe ich seit vier, fünf Jahren | |
| nicht mehr raus zum 1. Mai. Ich bin gelernter Kraftfahrer, ich habe seit | |
| Langem keine Arbeit. Die einzigen Angebote, die ich bekomme, sind von | |
| Zeitarbeitsfirmen, und die bieten immer ganz schlechte Löhne an.“ | |
| „Zum Teil weniger als die Hälfte vom Tarif. Darum lebe ich mit Harz IV. Ich | |
| habe auch ein Kind. Das ist zwar volljährig, aber es braucht immer wieder | |
| auch Hilfe – das ist ja auch normal. Wenn ich ihm aber etwas geben will, | |
| muss ich schauen, wie ich das hinkriegen kann. Deshalb sammle ich | |
| Pfandflaschen, das ist mein kleiner zusätzlicher Verdienst. Ich bin jeden | |
| Tag unterwegs, in gehe durch die ganze Stadt. Oft reicht es für ein | |
| Päckchen Tabak, manchmal sogar für etwas zum Essen. Die Pfandflaschen | |
| bringen mir mehr als eine sinnlose Demonstration.“ | |
| ## „Das ist mir viel zu gefährlich“ | |
| Anja, 57, hätte gern eine Arbeit, von der sie leben kann: | |
| „Ich bin Reinigungskraft und arbeite auf halber Stelle für 400 Euro im | |
| Monat. Meine drei erwachsenen Kinder brauchen meine Unterstützung: Ein Sohn | |
| ist Epileptiker, der andere ist wegen eines Bandscheibenvorfalls | |
| arbeitsunfähig. Meine Tochter hat selbst schon zwei Kinder, sodass ich | |
| häufig meine Enkelkinder versorge. Am 1. Mai gehe ich auch zu ihnen.“ | |
| „Wozu sollte ich demonstrieren? Das ist mir heute viel zu gefährlich. Vor | |
| der Wende war ich ab und zu auf Demos. Aber seit dem Mauerfall macht die | |
| Politik sowieso, was sie will. Sie sollten bessere Bedingungen schaffen. | |
| Ich müsste im Monat auf 1.000 Euro kommen, damit ich über die Runden | |
| komme.“ | |
| „Wenn ich noch eine zweite halbe Stelle annehmen würde, müsste ich für mein | |
| Sozialticket doppelt so viel bezahlen wie jetzt und würde letztlich nicht | |
| mehr Geld bekommen. Um mehr in der Tasche zu haben als momentan, bräuchte | |
| ich eineinhalb Stellen – das geht in meinem Alter aber nicht. Ich möchte | |
| eine Arbeit, von der ich leben kann. Der 1. Mai bringt sie mir bestimmt | |
| nicht.“ | |
| ## „Das betrifft uns“ | |
| Herr B. geht zum ersten Mal auf die Demo – gegen die Gentrifizierung: | |
| „Ich lebe seit 15 Jahren mit meiner Frau und unseren vier Kindern in | |
| Schöneberg. 2004 habe ich den Job verloren. Das Jobcenter sagt, unsere | |
| Miete sei zu hoch. Seit 2008 zahlt es nur noch 755 Euro, fast 500 Euro zu | |
| wenig. Bisher konnte ich das fehlende Geld mit einem Nebenjob aufbringen. | |
| Ich habe Krebs, kann ohnehin nicht mehr als vier Stunden am Tag arbeiten. | |
| Im Dezember ging der Laden bankrott. Die letzten Monate haben wir das | |
| fehlende Geld für die Miete aus dem Dispo bezahlt. Aber das geht nicht mehr | |
| lange. | |
| Wir suchen seit Jahren eine Wohnung. Es gibt in Berlin nichts für 6 | |
| Personen für 755 Euro warm, nirgends. Wir hatten ein Angebot aus Spandau. | |
| Jetzt hat der Vermieter abgesagt. 98 Quadratmeter seien zu klein. In der | |
| gleichen Woche hatten wir den Termin beim Sozialgericht. Es war | |
| schrecklich. Das Gericht stand auf Seite des Jobcenters. | |
| Diesen 1. Mai gehe ich zum ersten Mal demonstrieren, auf die Demonstration | |
| gegen Verdrängung, mit meinen Kindern. Ich bin vorher nie gegangen, ich | |
| habe die Forderungen nie verstanden. Das war so unkonkret, nur Krawall, | |
| hatte nichts mit mir zu tun. Aber das mit den Mieten, das betrifft uns.“ | |
| ## „Wir müssen uns wehren“ | |
| Herr M. aus Neukölln kämpft gegen die Verdrängung aus seiner Wohnung: | |
| „Ich wohne mit meiner Frau und unseren zwei Kindern seit 17 Jahren am | |
| Maybachufer. Seit 10 Jahren hatte meine Frau die Hauswartstelle inne, wir | |
| haben uns um das Haus gekümmert, als ob es unser eigenes wäre. 2008 wurde | |
| das Haus verkauft, dann fing es an mit den Mieterhöhungen: erst 75 Euro, | |
| dann wurde uns die Hauswartstelle plötzlich gekündigt und wir sollten 400 | |
| Euro mehr zahlen. Als wir uns weigerten, bekamen wir sofort eine | |
| Räumungsklage.“ | |
| „Letzte Woche war die Gerichtsverhandlung. Wir hatten Kontakt zu einer | |
| Initiative bekommen, da kamen über zehn Leute, um uns zu unterstützen, das | |
| hat mich total gefreut. Und wir haben recht bekommen, zumindest vorerst – | |
| so abrupt darf die Miete nicht erhöht werden. Langfristig werden wir | |
| vielleicht trotzdem etwas anderes suchen müssen, denn der Vermieter will | |
| fast 1.200 Euro für die kleine 3-Zimmer-Wohnung, wenn wir bleiben wollen.“ | |
| „Ich arbeite im öffentliche Dienst, verdiene keine 2.000 Euro. Das geht | |
| nicht. Wir sind auch fast die Letzten hier: Seit 2008 sind von 31 | |
| Mietparteien bis auf vier oder fünf alle ausgezogen. Die haben sich alle | |
| vertreiben lassen, ohne sich zu wehren! Die Wohnungen sind verkauft worden, | |
| die gehen weg wie nichts. Wir hätten unsere Wohnung auch gern gekauft, aber | |
| an uns wollte man nicht verkaufen.“ | |
| „Ich bin sonst nie zum 1. Mai gegangen. Aber wenn es dieses Jahr gegen die | |
| steigenden Mieten geht, gehe ich hin, vielleicht erzähle ich auch von | |
| unserem Fall. Das ist unglaublich, was hier so passiert. Der Anwalt einer | |
| Nachbarin hat gesagt: 'Der wirkliche Verbrecher ist der Staat.' Weil der | |
| das zulässt oder sogar gezielt fördert. Das sehe ich auch so. Wir können | |
| nicht weitermachen nach dem Motto: Schweig und hoff’, dass es dich nicht | |
| trifft. Wir müssen uns wehren.“ | |
| ## „Politiker vollquatschen“ | |
| Monika Frias, 46, ist Betriebsrätin und geht lieber in den Bundestag: | |
| „Frauenarbeitsplätze sind in diesem Land scheinbar nichts wert. Während der | |
| letzten Wochen haben wir bei Schlecker ziemlich viele Mitarbeiter verloren. | |
| In Berlin und Brandenburg mussten 148 Filialen schließen.“ | |
| „Nun weiß keiner von uns, wie es weitergeht. Die Herrschaften da oben bei | |
| Schlecker halten sich zurzeit bedeckt. Wir wissen nur, dass wir vielleicht | |
| schon ab dem nächsten Monat auf Gehalt verzichten sollen. Es gibt Gerüchte | |
| darüber, dass unser Bruttogehalt um 15 Prozent sinken soll, vielleicht gibt | |
| es außerdem kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld mehr.“ | |
| „Dagegen kämpfe ich mit dem Betriebsrat. Aber nicht auf der Straße. | |
| Protestieren am 1. Mai ändert nichts an der schwierigen Situation der | |
| Schlecker-Mitarbeiterinnen. Auch in den letzten Jahren bin ich nicht zur | |
| Mai-Demo gegangen. Ich gehe lieber in den Bundestag, um mit Abgeordneten zu | |
| sprechen, oder suche die Öffentlichkeit. Meiner Meinung nach bringt es | |
| einfach am meisten, wenn ich Politiker direkt vollquatsche.“ | |
| „Im Mai treffen wir Betriebsräte uns mit Arbeitssenatorin Dilek Kolat. | |
| Unsere Forderung: Die Politik muss es für Arbeitgeber attraktiver machen, | |
| Leute zu einem vernünftigen Verdienst einzustellen. In unserer Branche | |
| werden meist nur Teilzeitjobs angeboten. Wie soll man davon seine Miete | |
| bezahlen?“ | |
| 30 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
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