# taz.de -- 25 Jahre 1. Mai: Spielwiese des Dagegenseins | |
> Am 1. Mai 1987 erlebte Kreuzberg eine Revolte. Soziale Ursachen gab es | |
> nicht, damals lebte es sich weniger prekär als heute. Dennoch nahm der | |
> Tag die Zukunft vorweg. | |
Bild: Wrack eines ausgebrannten Baggers in der Mariannenstraße am 2. Mai 1987. | |
Irgendwann war die letzte Polizeiwanne weg. Irgendwann lag nur noch dieses | |
rhythmische Hämmern von Metall auf Metall in der Luft. Irgendwann, da war | |
er schon halb leer, brannte Bolle aus. Irgendwann wurden die kleinen Läden | |
geplündert: Die Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1987 war wie ein gespenstischer | |
Traum, die Erklärungsversuche wirkten hilflos: „Kreuzberg war Harlem“, | |
erschrak sich der Spiegel, die taz sprach von einem „Szenario der Ekstase“. | |
Die Ratlosigkeit dauert bis heute an. Sicher ist nur eines: Dort, wo einmal | |
Bolle war, steht heute eine Moschee. | |
Vielleicht verraten Veränderungen mehr als Erklärungsversuche. Wenn ich | |
heute am Görlitzer Bahnhof vorbeischlendere, fühle ich mich oft wie ein | |
Tourist in der eigenen Stadt, in der Hand ein fiktiver Reiseführer aus dem | |
Jahr 1987. Es fällt schwer zu glauben, dass die Brandwände vor 25 Jahren | |
noch unverputzt und die Einschusslöcher aus dem Krieg unübersehbar waren: | |
Kreuzberg roch nicht nach frischen Bagels, sondern nach Kohleheizung. Auch | |
die „Touris“ kamen nicht aus Barcelona und Mailand, sondern aus Stuttgart | |
und Bielefeld. Schnell waren sie eingemeindet – und schimpfen heute „Hilfe, | |
die Touris kommen“. | |
Kreuzberg vor 25 Jahren, das war eine kollektive Spielwiese des | |
Dagegenseins. Es gab nur zwei Rollen: „die“ und „wir“. „Die“, das w… | |
„Bullen“, der „Staat“, die „Kapitalisten“. „Wir“ dagegen waren … | |
Stellte man das kreative Prekariat von heute vor eine solche Wahl, würde | |
man wohl in fassungslose Gesichter blicken. Eine Ich-AG wäre 1987 | |
unvorstellbar gewesen, zum revolutionären „Wir“ hätte sie sicher nicht | |
gezählt. | |
Vielleicht wäre sie aber auch nicht nötig gewesen. Eigentlich lebte es sich | |
gar nicht so schlecht, steht im fiktiven Reiseführer. Ein bisschen Bafög | |
oder Stütze, ein bisschen Schwarzarbeit, fertig war das revolutionäre | |
Glück. Von der staatlich gedeckelten Miete ganz zu schweigen. | |
Nur: Wer von den revolutionären Demonstranten, die am gestrigen Dienstag | |
von Kreuzberg nach Mitte zogen, würde sich dieses Kreuzberg aus dem Jahre | |
1987 zurückwünschen? Ein Leben mit Kohleeimern statt Internet. Eine | |
Halbstadt unter einer Käseglocke namens Berlinsubvention. Verglichen mit | |
heute wirkt das Kreuzberg von damals wie der Nachbau der „Berliner Straße“ | |
im Filmstudio von Babelsberg. Eine Kulisse halt. | |
Gleichwohl war es dieses Biotop aus Käseglocke und Einschusslöchern, das | |
auf sonderbare Weise attraktiv war – und den Grundstock legte für das | |
„kreative Berlin“ von heute. | |
Hier nun kommen wir an einen Punkt, an dem es weniger um Unterschiede geht, | |
sondern um das Gemeinsame an einer Erzählung Kreuzbergs. Einer Erzählung, | |
die vor allem mit Freiräumen zu tun hat und (fast) grenzenloser Freiheit. | |
Der Staat dagegen hatte es schwer: Diesen eigentümlichen Liberalismus | |
teilen Autonome, Grüne und Piraten bis heute. | |
Und auch das ist ein Kontinuum: das Gefühl, dass es langsam eng wird mit | |
diesem Freiraum. | |
Natürlich: Eng war es auch schon 1987, als die ersten Spätaussiedler nach | |
Westberlin kamen. Nicht die Miete war damals das Problem, sondern die | |
Wohnungsknappheit. Was nutzte einem die Mietpreisbindung, wenn der | |
Leerstand nicht abgebaut wurde? | |
Eng war es auch 1990, weil die Wiedervereinigung den Sommer der Anarchie | |
und die Mainzer Straße beendete. Dem Zusammenwachsen der Stadt folgte ihre | |
Kapitalisierung. | |
Nie aber hätte ich mir träumen lassen, dass Berlin einmal am Ast sägt, auf | |
dem es sitzt. Die Gegenwart belehrt mich eines Besseren. Um Berlin wird | |
spekuliert. Auf Berlin wird gewettet. Ja, das ist normal so heutzutage, und | |
doch übersteigt es das Fassungsvermögen, das immer dann sehr begrenzt ist, | |
wenn es ans Existenzielle geht. Gemessen daran, wie sich Berlin verändert | |
hat, wäre eine Revolte heute erklärlicher. | |
## Nahkampf statt Befreiung | |
Vor 25 Jahren war ich dabei beim 1. Mai. Es war laut, es war geil, es war | |
auch erschreckend. Das bunte, alternative, radikale Kreuzberg bestritt | |
nämlich nur den ersten Akt. In Akt zwei führten andere die Regie. | |
„Brandstifter ohne Maske und Plünderer in Stöckelschuhen“, nannte sie der | |
Spiegel. Die „Selbstbestimmung“, die aus der revolutionären Gegenmacht | |
hervorgehen sollte, entpuppte sich als Nahkampf, bei dem jeder jedes Gegner | |
war. Im Auge der Revolte zeigte sich keine Befreiung, sondern die | |
Wolfsgesellschaft. | |
Von alledem am Dienstag keine Spur. Die Parolen noch immer dieselben. Der | |
Staat weiterhin verhasst. Die Illusion die alte: Wir regeln das schon. Das | |
ist unser 1. Mai. | |
Dabei war der 1. Mai 1987 wohl weniger revolutionär als visionär. Der | |
Immobilienmarkt folgt heute den gleichen Regeln wie der Mob am Görlitzer | |
Park – rechtsfrei, wölfisch, ungehemmt. Kein Grund zum Feiern. | |
1 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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