# taz.de -- Ökonom über Lage in Griechenland: „Die EU lässt Klientelpoliti… | |
> Mitten in der Eurokrise steht Griechenland vor den Wahlen. Es wäre besser | |
> gewesen, auf den Schuldenschnitt zu verzichten, sagt der Ökonom Yannis | |
> Stournaras. | |
Bild: Am 1. Mai gab es auch in Griechenland Proteste. Die Lage sei katastophal.… | |
taz: Herr Stournaras, am 6. Mai wird in Griechenland gewählt. Was erwarten | |
Sie? | |
Yannis Stournaras: Es könnte sein, dass keine Regierung zustande kommt. Die | |
Splitterparteien legen zu, während die großen Volksparteien verlieren. Das | |
schlimmste denkbare Szenario wäre, dass wir immer wieder neue Wahlen | |
abhalten müssen. | |
Wird Griechenland unregierbar? | |
Das ist nicht auszuschließen. Gleichzeitig wollen aber 80 Prozent der | |
Wähler im Euro bleiben. | |
Trotz der Eurokrise? | |
Die Lage in Griechenland ist katastrophal, bis Ende 2012 wird unsere | |
Wirtschaft um 18 Prozent geschrumpft sein. Damit ist die Rezession viel | |
schwerer ausgefallen, als es EU, EZB und Internationaler Währungsfonds | |
prognostiziert haben. | |
Was hat die „Troika“ falsch gemacht? | |
Es wurden vor allem die Löhne gekürzt und die Steuern erhöht. Stattdessen | |
hätte man viel mehr darauf bestehen müssen, dass der griechische Staat sein | |
Vermögen privatisiert und die Märkte geöffnet werden. | |
Was hätte das gebracht? | |
Sie müssen Griechenland nur mit Irland vergleichen. In Irland ist die | |
Wirtschaft inzwischen um 6 Prozent geschrumpft, und die Preise sind um 4 | |
Prozent gefallen. Damit hat die internationale Wettbewerbsfähigkeit von | |
Irland zugenommen. In Griechenland hingegen ist die Wirtschaft sogar um 18 | |
Prozent eingebrochen – und trotzdem steigen die Preise noch. Hier gibt es | |
überhaupt keinen Markt und keinen Wettbewerb. Überall regieren die | |
Kartelle. Also ist es auch gar kein Wunder, dass wir international nicht | |
konkurrenzfähig sind. | |
Ist es nicht unfair, diesen mangelnden Wettbewerb der Troika anzulasten? | |
Sie bemüht sich seit zwei Jahren, das Kartell der Lastwagenfahrer | |
aufzubrechen, die für jeden Transport exorbitante Preise berechnen. | |
Aber bei den Kartellen legt die Troika nicht den gleichen Eifer an den Tag, | |
den sie bei den Lohnkürzungen zeigt. Die EU lässt es zu, dass die | |
griechischen Politiker Klientelpolitik betreiben. | |
Immerhin gab es einen Schuldenschnitt, bei dem Griechenland 100 Milliarden | |
Euro erlassen wurden. Hat das geholfen? | |
Es wäre sehr viel besser gewesen, auf den Schuldenschnitt zu verzichten. | |
Denn wie der Name „Kredit“ schon sagt – es geht um Vertrauen. Wenn | |
Kreditgeber nicht mehr darauf vertrauen können, dass sie ihr Geld | |
wiedersehen, dann werden sie das Land meiden. Durch den Schuldenschnitt ist | |
Griechenland von den Kapitalmärkten abgeschnitten. Aber die deutsche | |
Regierung wollte ihn unbedingt. Damit müssen wir nun leben. | |
Was wäre denn die Alternative zu einem Schuldenschnitt gewesen? | |
Griechenland stand kurz vor der Pleite. | |
Man hätte den Vorschlag von Roland Berger aufgreifen sollen, dass der | |
griechische Staat sein Vermögen an die Troika verkauft – und im Gegenzug | |
Kredite erhält. Denn unser Staat ist sehr reich, was historische Gründe | |
hat. Nach dem Abzug der Türken wurden die Besitztümer der Ottomanen nicht | |
privatisiert, sondern auf den griechischen Staat und die Kirche übertragen. | |
Aber dieser Reichtum ist doch rein fiktiv. Kein Investor ist an | |
griechischem Land interessiert, solange die Wirtschaft in der Depression | |
verharrt. | |
Griechenland hat enormes Potenzial. Nur ein Beispiel: Man könnte den | |
Medizintourismus ausbauen. Die Weltgesundheitsorganisation stuft das | |
griechische Gesundheitssystem auf Platz 14 ein, während Deutschland nur | |
Platz 25 erreicht. Wir haben sehr gute Ärzte – aber viel zu viele. Die | |
Hälfte aller staatlichen Krankenhäuser steht leer. | |
Wie kam es dazu? | |
Jeder griechische Minister wollte ein Krankenhaus oder eine Universität in | |
seiner Heimatstadt errichten. Es war eine Form der Korruption. | |
Aber Griechenland kann doch nicht nur vom Medizintourismus leben, zumal | |
andere Länder wie Tschechien auch schon auf diese Idee verfallen sind. | |
Griechenland hat viele weitere Möglichkeiten: Man könnte hier zum Beispiel | |
Medizinpflanzen anbauen, biologische Landwirtschaft betreiben, Solar- und | |
Windenergie exportieren – und natürlich den Tourismus weiter ausbauen. | |
2 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
Ines Pohl | |
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