| # taz.de -- Actress: „R. I. P.“: Party-Umzug ins Paradies | |
| > Die Party ist vorbei. Oder beginnt sie gerade erst? Actress bearbeitet | |
| > auf „R.I.P.“ die Frage, wie Clubmusik klingen soll, wenn die Raver von | |
| > einst erwachsen sind. | |
| Bild: Abstraktionsvermögen ist das größte Kapital des 32-jährigen Musikers … | |
| Irgendwann in den letzten Jahren haben die Produzenten von Dancemusic die | |
| Erinnerung für sich entdeckt. Plötzlich tauchten sie auf, die Reminiszenzen | |
| an längst vergangene Epochen und Stile, an die New Yorker Voguing-Szene der | |
| frühen Neunziger oder die Explosion von UK Garage um die Jahrtausendwende. | |
| Und es wurde kompliziert. | |
| Wie soll eine Clubmusik klingen, die sich nicht mehr auf die gemeinsame | |
| Erfahrung des Moments oder ein Zukunftsversprechen verlassen kann? Wie | |
| überträgt man die Sehnsüchte, die mit diesen Clubmomenten verquickt sind, | |
| auf Musik, die diese Sehnsüchte aufbewahren soll, ohne gleich in die | |
| Klischees von Retro und Reverb zu verfallen? | |
| Auch Actress, das Projekt des britischen Produzenten Darren Cunningham, | |
| lebt von seiner Vergangenheit als Raver. Aber anstatt die Erfahrung einer | |
| Generation widerzuspiegeln, wird er persönlich. Wie kann man als Raver | |
| erwachsen werden? | |
| So richtig beantwortet er diese Frage auf den 15 Tracks seines neuen | |
| Actress-Albums „R. I. P.“ nicht, aber er sucht seine Inspiration zumindest | |
| abseits der großen Erzählung von Rave- und Breakbeateuphorie. Und stößt | |
| dabei auf eine noch viel größere Erzählung: John Miltons „Das verlorene | |
| Paradies“, die alte Geschichte vom Kampf der Engel gegen den Teufel und von | |
| Sündenfall und Wiederauferstehung. | |
| ## Plot einer verlorenen Unschuld | |
| Das klingt nach Konzeptalbum, nach Popmusik mit Ewigkeitsanspruch, dem | |
| verzweifelten Versuch, doch bitte, bitte endlich ernstgenommen zu werden – | |
| kurzum: grässlich. Aber diese Sorge ist unberechtigt. Cunningham hat seinen | |
| Milton zwar gründlich gelesen, benennt seine Tracks nach Nebencharakteren | |
| und konstruiert den Plot einer verlorenen Unschuld, dem Sündenfall aus dem | |
| Clubhimmel als spirituellen Bildungsweg. Trotzdem ist „R. I. P.“ keine | |
| vertonte Literatur, sondern eine leicht fahrige Meditation über Dancemusic | |
| und wie sich für immer in den Synapsen festsetzt. | |
| Wie schon auf den beiden Vorgängeralben ist Irritation dabei das Gebot der | |
| Stunde. Aber wo diese sich noch lose zwischen den Genregrenzen von House, | |
| Techno und Dubstep bewegten, sind Actress’ neue Tracks nur noch auf ihn | |
| selbst zurückgeworfen. Zwölf Stunden am Tag arbeite er an seiner Musik hat | |
| Cunningham dem Guardian in einem seiner seltenen Interviews erzählt. Zehn | |
| Stunden, in denen er kaum isst und die er im Dunstschleier vor seinem | |
| Rechner verbringt. | |
| In diesen Stunden entsteht seine spezielle Ästhetik. Sie ist digital, aber | |
| niemals klinisch, herausfordernd, aber immer zurückhaltend. Manchmal | |
| bedient Cunningham sich simpler Effekte, die mit einem minimalem Einsatz | |
| von Technik einen ganzen Track tragen können. Auf „Holy Water“ wird ein | |
| kleines Melodiefragment von mikroskopisch verschobenen Sinustönen umspült – | |
| ein Trick, den er sich bei den Pionieren elektro-akustischer Musik | |
| abgeschaut hat. | |
| ## Digital, aber niemals klinisch | |
| Überhaupt ist Abstraktionsvermögen das größte Kapital des 32-jährigen | |
| Musikers. „Raven“ kreist um ein verhalltes UK-Funky-Motiv, spielt mit der | |
| Stellung von Drums und Bassline im Mix und wird so zu einer Meta-Erzählung | |
| über die Funktion des Raums in der Bassmusik. | |
| „R. I. P.“ ist ein Album, das man sich erarbeiten muss. Wo britische | |
| Bassmusik gerne mit ihrer Konsensfähigkeit kokettiert, bleiben Cunninghams | |
| Anspielungen skizzenhaft, fast schon introspektiv. Erst in den | |
| Schlussminuten wird das Album clubkompatibel. Cunningham programmiert eines | |
| dieser unwiderstehlichen Bassmonster nach Detroiter Bauart, darüber läuft | |
| ein gelooptes, leicht zerhäckseltes Vocalsample, beides speist er in einen | |
| mit digitalen Artefakten versetzten Reverb. Es ist der einzige Moment | |
| ungebrochener Euphorie. Gerade als man das Gefühl bekommt, der Loop könnte | |
| ewig weiterlaufen, löst er sich auf. | |
| Kein Nachhall, keine Melancholie – stattdessen Putzlicht und Ratlosigkeit. | |
| Die Party ist vorbei. Oder beginnt sie gerade erst? | |
| 3 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
| ## TAGS | |
| Tanz | |
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