| # taz.de -- Mutek Festival in Montreal: Unten summen die U-Bahn-Züge | |
| > Anspruchsvoll und ohne Großsponsoren: Das Mutek Festival in Montreal | |
| > bietet elektronische Musik und „digitale Kreativität“ aus Nordamerika und | |
| > Europa. | |
| Bild: Die Orgel wurde mit dem Laptop kurzgeschlossen: Kirche Unie St. James in … | |
| Es ist Freitag, später Nachmittag, die Rushhour beginnt in der | |
| U-Bahnstation Berri/UQAM, einem Verkehrsknotenpunkt im Zentrum von | |
| Montreal. Drei U-Bahn-Linien kreuzen sich unter der Erde, Tausende steigen | |
| hier täglich ein oder um. Vor einer Ladenpassage im Zwischengeschoss spielt | |
| der junge kanadische Produzent Kenlo Craqnuque elektronische Tanzmusik. | |
| Sein Konzert ist Teil des elektronischen Musikfestivals Mutek, das zum 13. | |
| Mal an verschiedenen Orten in Montreal stattfindet und Besucher aus nah und | |
| fern anzieht. | |
| Einige tanzen schon, zunächst verschwinden sie noch zwischen dem Gewimmel | |
| der Passanten. Dann werden es langsam mehr. Manche, zufällig des Weges | |
| Kommende, bleiben stehen und lauschen dem Sound: Frauen, Männer, Kinder, | |
| alte und junge, das Publikum ist heterogen. Zwischen Brokenbeats und | |
| Deephouse, submariner Tiefe und filigranen Clicks dirigiert Kenlo seine | |
| unruhige elektronische Tanzmusik wie mit einem Kompass: Sequenzer und | |
| Mischpult, dessen Regler der 25-Jährige gelegentlich nach oben reißt- nach | |
| dem Motto, „schaut her, was ich kann“. Aber das Schöne ist, in diesem | |
| Moment geht nicht nur sein Konzept auf – außerhalb eines Clubs –, auch die | |
| Einbettung des Festivalkonzepts in den öffentlichen Raum der Großstadt | |
| gelingt. | |
| Mehr noch, die Musik erweitert sich, um das, was der britische Musiker | |
| Brian Eno einmal als „Ambient“ bezeichnet hat: Ambient-Musik, so Eno, nimmt | |
| die spezifischen Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung in sich auf, der | |
| Geräuschteppich der Umwelt wird Teil der Performance. | |
| In Kenlos Sounds mischen sich Lautsprecher-Ansagen der Verkehrsbetriebe, | |
| man hört Passanten-Schritte klappern und von tiefer unten summen in | |
| regelmäßigen Abständen die Transformatoren der an- und abfahrenden | |
| U-Bahn-Züge. Irgendwann dringt auch Gezeter ans Ohr: vier Polizisten tragen | |
| einen Mann, der sich nach Kräften wehrt, an Händen und Füßen an der Bühne | |
| vorbei. Kenlo sagt etwas, das sich wie ein Fluch anhört, – das kehlige | |
| Quebec-Französisch ist schwer zu verstehen, die Umstehenden lachen. Dann | |
| lässt er einen eisigen formalistischen Beat vom Stapel. | |
| ## Auf Töpfe klopfen | |
| Es bleibt nicht die einzige Überraschung beim Mutek-Festival. Dafür sorgt | |
| auch die sogenannte Casserole-Bewegung, initiiert von Studenten in | |
| Montreal. Seit mehr als 100 Tagen streiken sie aus Protest gegen eine | |
| drastische Erhöhung ihrer Studiengebühren um 75 Prozent. Das Studium kostet | |
| bisher umgerechnet etwa 1.700 Euro pro Jahr. Der Premierminister von | |
| Quebec, Jean Charest, weigerte sich, über die geplante Erhöhung zu | |
| verhandeln. Mit dem Gesetz Nr. 78 versucht er sogar, die Proteste zu | |
| untersagen. | |
| Also wird jeden Abend kurz nach acht Uhr geklopft: Auf Töpfe (Casseroles) | |
| und Deckel, was sich durch die Straßenschluchten Montreals eindrucksvoll | |
| verstärkt und auf große Solidarität im Rest der Bevölkerung stößt. Als | |
| Erkennungszeichen gilt den Protestierenden ein rotes Quadrat am Revers, | |
| „Red Square“ genannt, was auch bei den Mutek-Konzerten von zahlreichen | |
| Besuchern getragen wird. | |
| „Die Regierung ist korrupt“, erzählt ein junger Mann im schwarzen T-Shirt, | |
| den ich frage, gegen was sich der Zorn richtet. „Sie nimmt uns nicht | |
| ernst.“ Die Casserole-Bewegung wendet sich mit ihren Aktionen gegen die | |
| „polare Trägheit“ (Paul Virilio), die jedes Anzeichen von Fortschritt und | |
| den Zugang zu Informationen und Wohlstand kontrolliert und die Menschen | |
| passiv zu machen versucht. | |
| Alain Mongeau sieht sein Festival daher unter besonderen Umständen | |
| stattfinden. Als Mutek 1999 begann, wollte er die kreative Energie von Rave | |
| mit anderen Mitteln fortführen. Der 50-Jährige, der zunächst für ein | |
| kleines Filmfestival den Multimedia-Bereich programmierte, hat Mutek | |
| inzwischen zu einem „Festival für digitale Kreativität und elektronischer | |
| Musik“ aufgebaut. Alle Konzerte werden von Visuals und Filmen begleitet, | |
| auch an Häuserwände werden Flimmerbilder projiziert. Und unter die | |
| Kuppeldecke in einem der Hauptspielorte, Société des Arts Technologiques | |
| (SAT), wo sie für eine beeindruckende Anmutung sorgen. | |
| ## Öffentlicher Raum ist politischer Raum | |
| „Tools for an unknown Future“ heißt das Motto eines Workshops, der jeden | |
| Morgen auf dem Place de la Paix, gegenüber des Festivalzentrums im Theater | |
| „Monument National“ abgehalten wird. Geleitet vom Architektenbüro | |
| raumlabor-Berlin zimmern Studenten Sitzmöbel für den öffentlichen Raum. | |
| Einladende Sessel mit Kopfstützen und Armlehnen zum Ausstrecken. Für Markus | |
| Bader, den Vertreter von raumlabor, sind dies Symbole für einen | |
| barrierefreien Zugang zur Stadt. | |
| Montreal ist eine grüne Stadt, mit vielen Parks und Plätzen, mit | |
| kulturellen Signifikanten der anglo-amerikanischen Kultur, aber auch mit | |
| französischen Einflüssen. Ein Stück Unabhängigkeit hat man sich bewahrt, | |
| aber auch hier findet inzwischen die Beschränkung der Aufenthaltsrechte | |
| ihren Niederschlag. Parkbänke werden abgebaut, Hindernisse eingezogen, um | |
| etwa Skater am Fahren zu hindern. Der öffentliche Raum sei ein politischer | |
| Raum, befindet Bader, aber er vermisst das bürgerliche Engagement, dem | |
| wolle er mit der Sitzmöbel-Aktion aktiv begegnen. | |
| Mutek wird von ehrenamtlichen Helfern realisiert. Und mit bescheidenen | |
| finanziellen Mitteln. Montréal sei eine arme Stadt, erklärt Alain Mongeau | |
| im Gespräch. Verglichen mit anderen nordamerikanischen Großstädten sind die | |
| Lebenshaltungskosten vergleichsweise niedrig. Der Kultur kommt dies zugute. | |
| Mongeau spricht von der Insellage Montreals, das geographisch zwischen zwei | |
| Flüssen liegt; inmitten von acht Millionen Frankophonen, die wiederum von | |
| 360 Millionen englisch und spanischen Sprechenden umgeben sind. Mit seinem | |
| Programm baut Mutek traditionell Brücken nach Europa, aber auch in die USA. | |
| Am Mittwoch, dem Eröffnungsabend, zeigt das New Yorker Duo Blondes, dass | |
| ihr abschätzig „Hipster-House“ genannter Sound sehr genau auf | |
| transatlantische Routen Bezug nimmt. Die Hallfahnen des Berliner Dubtechno | |
| der Neunziger, der auch von US-Einflüssen geprägt war, führen die beiden | |
| Musiker Zach Steinman und Sam Haar alias Blondes wieder zurück in einen von | |
| Synthesizern und Sequenzern erzeugten melodiösen Akkordzusammenhang, der | |
| die rhythmische Härte fast kosmisch sanft abfedert und für Euphorie unter | |
| den Zuschauern sorgt. | |
| ## Keine Großsponsoren | |
| Die Abendveranstaltungen sind immer voll. Montreal ist nicht nur eine | |
| Hochburg für bildende Künstler, sondern auch Heimat von elektronischen | |
| Produzenten, die selbst in der ganzen Welt bekannt sind, wie etwa Akufen | |
| oder The Mole. Und ihre Tradition wird inzwischen von einer nachwachsenden | |
| Generation von Produzenten fortgesetzt, etwa Danuel Tate oder Basic Soul | |
| Unit, die nachmittags trotz strömenden Regens die Leute auf die Beine | |
| bringen. | |
| Mutek bekommt zwar einige staatliche Subventionen, Groß-Sponsoren gibt es | |
| jedoch keine. Für Headliner mit Starpower fehlt daher das Geld. Die | |
| Künstler kommen aus Überzeugung. So wie der Londoner Dubstep-Pionier Steve | |
| Goodman alias Kode 9, der spätnachts am Freitag im Saal der Société des | |
| Arts et Technologies (SAT) ein DJ-Set hinlegt, das die Tanzfläche | |
| explodieren lässt. | |
| Ein Mädchen schafft es trotz geschientem Arm, den Moonwalk hinzubekommen. | |
| Kein Wunder: Kode 9 fächert die Geschichte der elektronischen Tanzmusik | |
| auf: Zwischen Oldschool-Jungle und zeitgenössischer Bassmusik, zwischen | |
| House und Techno formt er eine Art Schnittmuster mit Zickzacklinien. | |
| Instruktiv, exakt choreografiert, aber äußerst unterhaltsam zieht er | |
| Schneisen durch verschiedene Dancefloor-Phasen, bis er zum umjubelten | |
| Finale schließlich beim Detroit-Houseklassiker „Strings of Life“ landet. | |
| ## Duell der Trommelfelle | |
| Weder Harmonisch, noch tanzbar wird der Samstagabend in der Kirche Unie St. | |
| James begangen, als sich der kanadische Laptop-Künstler Tim Hecker und der | |
| US-Doom-Pionier Stephen O‘Malley (äußerlich eine Mischung aus Kardinal | |
| Richelieu und Ted Nugent) in einem „Duell der Trommelfelle“ messen. Hecker | |
| schließt die Kirchenorgel mit seinem Laptop kurz und lässt es bratzeln. | |
| O‘Malley, der als einziger in der Kirche vom Heiland persönlich Alkohol | |
| erhält, spielt seine Gitarre an und lässt das Feedback so brachial ertönen, | |
| bis man sich vor Angst, in die Hose zu kacken, auf die Kirchenbank drückt, | |
| die aber auch ganz schön ins Schwingen kommt. Hinter mir sagt einer aus | |
| Toronto, „wir werden alle in der Hölle schmoren“. Aber für dieses Konzert | |
| hat es sich allemal gelohnt. | |
| Am Sonntag endet das Mutek fast beschaulich auf der Insel Saint Hélène bei | |
| einem „piknik electronique“, zudem die Montrealer tatsächlich Baguette, | |
| Wein und Decken mitgebracht haben. Noch mehr Ambient mit Vogelzwitschern, | |
| Blätterrauschen und Grillgebrutzel. In Sichtweite des von Buckminster | |
| Fuller entworfenen „Biosphère-Gebäudes“ der Expo 1967. Zu idyllisch? Aben… | |
| um kurz nach Acht wird wieder auf die Cassonaden geklopft, was das Zeug | |
| hält. Hier gibt sich so schnell niemand der polaren Trägheit hin. | |
| 5 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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