# taz.de -- Mahnwache für getötete Kreuzberger Frau: Nette Gesten, entrückt | |
> Nach dem Gewaltverbrechen in Berlin-Kreuzberg organisiert ein Verein eine | |
> Mahnwache. Die Stimmung schwankt zwischen Trauer und Empörung. | |
Bild: Türken und Deutsche, Kurden und Araber, Frauen und Männer wollten ein Z… | |
Es ist eine gespenstische Atmosphäre. Das Drama, das sich vor drei Tagen | |
hier abgespielt hat, ist förmlich greifbar. Da, wo der Kopf aufprallte, | |
liegt noch der weiße Sand, der die Blutspuren verwischen soll. Ein Baum in | |
der Mitte des Hofes raubt das wenige Licht. Die brennenden Teelichter und | |
niedergelegten Blumen drum herum vermitteln ein Gefühl wie auf einem | |
Friedhof. Hinter einer kaputten Scheibe stehen Kinder und lachen, Frauen | |
mit Kopftüchern öffnen die Fenster und schauen herunter. | |
Mit einer Mahnwache wurde am Dienstagabend der getöteten Mutter in | |
Berlin-Kreuzberg gedacht. Zu der Gedenkaktion hatte der Verein „Aufbruch | |
Neukölln“ aufgerufen. Die Organisation kämpft gegen häusliche Gewalt von | |
Männern – vor allem türkischer Herkunft. | |
Türken und Deutsche, Kurden und Araber, Frauen und Männer wollten ein | |
Zeichen setzen. Manche hatten Tränen in den Augen, einige trugen ein | |
T-Shirt mit dem Motto „Männer gegen Gewalt“. | |
Im Innenhof des Mietshauses, in dem die 30-jährige Semanur mit ihren sechs | |
Kindern lebte, trafen sich Hunderte, halten Plakate und Bilder der Toten | |
hoch. Nachbarn haben einen kleinen Tisch aufgebaut, auf diesen eine | |
Musikanlage gestellt, der Gesang eines Imams schallt aus ihr durch den | |
Innenhof. Kinder verteilen Limonade, Wasser und Kaffee an die | |
Umherstehenden. Es soll eine nette Geste sein, die doch so entrückt | |
erscheint. Denn normal ist hier nichts mehr. | |
## Triste Sozialbauten | |
Es sind nur ein paar Meter von der Köthener Straße bis zur Glitzerwelt des | |
Potsdamer Platzes: auf der einen Seite die Shoppingarkaden, Massen von | |
Touristen und Edelapartments. Direkt dahinter die eher tristen | |
Sozialbauten. Satellitenschüsseln ragen von den Dächern, die Wände sind mit | |
Graffitis vollgeschmiert. | |
Hier hat in der Nacht zu Montag Orhan S. seine Ehefrau Semanur umgebracht. | |
Der 32-Jährige zerrte sie auf das Dach, wo er sie enthauptete. Die sechs | |
gemeinsamen Kinder seien in der Wohnung gewesen, als ihr Vater einige | |
Körperteile ihrer Mutter vom Dach in den Innenhof warf, heißt es. | |
Es ist nicht bekannt, ob und wie viel die Kinder von der Tragödie | |
mitbekommen haben. Orhan S. wurde noch am Tatort festgenommen, er hat die | |
Tat im Wesentlichen gestanden. Ihm wird Totschlag vorgeworfen, es gebe aber | |
Hinweise auf eine stark verminderte Schuldfähigkeit, sagte ein Sprecher der | |
Staatsanwaltschaft. Boulevardmedien schreiben vom „Kreuzberger Schlächter“ | |
oder „Kopf-ab-Schlächter“. | |
## „Ihr und euer Koran!“ | |
Wie kann so etwas überhaupt passieren? Orhan S. soll „Allahu Akbar“ (Gott | |
ist groß) gerufen haben, war er ein muslimischer Fundamentalist? In einer | |
spontan entstandenen Diskussionsrunde wird lautstark auf Türkisch über | |
diese Fragen gestritten. Ein Mann fragt in die Runde, ob die Tat etwas mit | |
Orhan S. kurdischer Herkunft zu tun habe. | |
„Was soll diese Frage?“, schimpft eine Frau. „Es geht hier um einen Mord. | |
Nicht um die Herkunft der Familie. Warum tut einer seinen Kindern so etwas | |
an?“, fragt sie. „Hast du etwa ein Problem mit dem Koran?“, entgegnet ihr | |
ein anderer Mann. „Ihr und eurer Koran“, antwortet sie aufgeregt. „Ich bin | |
auch Muslimin. Ich habe das Wort ’Koran‘ hier nicht einmal benutzt.“ | |
Warum er seine Frau umbrachte und was genau das Motiv für diese Tat war, | |
darüber gibt es bisher nur Spekulationen. Ob Orhan S. – der sich momentan | |
in einer psychiatrischen Klinik befindet – sich in seiner Ehre verletzt | |
fühlte und deswegen ausrastete, kann nur er beantworten. Aber sind diese | |
Fragen wirklich so wichtig? Denn die Familie ist zerstört, was mit den | |
Kindern geschieht, ist ungewiss. Ihr Vater ist ein mutmaßlicher Mörder, die | |
Mutter ist tot. | |
6 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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