| # taz.de -- Der 21. Juni ist ein besonderer Tag: Schlaf oder wandeln? | |
| > Berlin gilt seit jeher als Hauptstadt des verschnarchten Liedes. Daher | |
| > kann man sich den heutigen Tag des Schlafes mit gutem Gewissen auf der | |
| > Fête de la Musique um die Ohren schlagen | |
| Bild: Still und leise - oder laut und lustig? | |
| Bei den Recherchen zu diesem Text erzählte Gudrun Gut eine schöne Anekdote: | |
| Es war Anfang der Achtziger, Berlin war Mauerstadt und Zuflucht für alle, | |
| die ein Leben jenseits der Gradlinigkeit suchten. Die Musikerin, DJ und | |
| Produzentin nahm damals eine Kassette mit Songs der Einstürzenden Neubauten | |
| und Mania D. auf, bei denen sie selbst Gründungsmitglied war. Das Tape trug | |
| den Titel „Sleep“ und stellte einen „Appell an die kleine Musikszene dar, | |
| endlich aufzuwachen“, sagte Gut. | |
| Im Vergleich zu anderen Städten gab es in Berlin eher wenige Bands, vor | |
| allem aber weniger Druck, mit Musik Geld zu machen. Berlin war eine Stadt, | |
| in der es sich entspannt und günstig leben ließ. Anders als etwa in | |
| England, wo Popmusik schon immer auch als Aufstiegschance für | |
| Arbeiterkinder wahrgenommen wurde – man denke nur an die Geschichte der | |
| Beatles – war Berlin die im positiven Sinn verschnarchte Stadt des | |
| musikalischen Friemelns. Musiker hier fühlten sich selten von | |
| Leistungsdruck und Konkurrenzdenken belästigt – im Gegenteil: Oft spielten | |
| sie gleich in mehreren Bands, auch wenn keine davon erfolgreich wurde. | |
| So sangen schon in den Achtzigern Ideal, die Einstürzenden Neubauten oder | |
| die Ärzte nicht nur vom schrillen Leben mit Sex, Drogen und Punk – sondern | |
| sehr gern auch vom Tag danach, vom schönen Schlendrian, von Müßiggang und | |
| Müdigkeit. Das ging etwa so: „Schlafen. Ich will schlafen. Nur schlafen.“ | |
| (Ideal). Oder so: „Es wird hell. Draußen ist feindlich. Schließ dich ein | |
| mit mir.“ (Einstürzende Neubauten). | |
| In den Neunzigern, als in einem ganz anderen Paralleluniversum Techno zu | |
| wummern begann, wurde dieses Anliegen von Bands wie den Lassie Singers oder | |
| Element of Crime traditionsbewusst weiterentwickelt. 1998 schließlich | |
| entstand eine legendäre Single, die Berlin als Hauptstadt des lässigen | |
| Schrammelns für immer ein Denkmal setzte: Ein kuschliges Lied mit dem | |
| sprechenden Titel „Komm an den Ofen“, forciert vom Berliner Bohemien Doc | |
| Schoko, eingesungen von illustren Berliner Undergroundstars wie Jim Avignon | |
| und Julia Wilton von den Pop Tarts – und auch von Christiane Rösinger, | |
| deren größtes Lied an die Langsamkeit hier zitiert werden soll: „Ist das | |
| wieder so ‘ne Phase, oder bleibt das jetzt für immer so stehn? Werd‘ ich | |
| jemals noch in diesem Leben wieder aufstehen, mich anziehen und auf die | |
| Straße gehen?“ | |
| Und wie sieht es heute aus in Berlin, wo sich immer mehr Kreative aus aller | |
| Welt auf die Füße treten und versuchen, ihre Brötchen zu verdienen? Songs | |
| übers Faulsein, übers Ausruhen und Schlafen entstehen hier nach wie vor | |
| zuhauf – man denke nur an die melancholischen Zeilen von Wir Sind Helden: | |
| „Bist du nicht müde, nach so vielen Stunden? Du wankst und taumelst, deine | |
| Füße zerschunden.“ Oder an die Lieder der Wahlberliner Gisbert zu | |
| Knyphausen („Aus meinem Sessel komm‘ ich nie mehr wieder hoch“) oder | |
| Bernadette La Hengst („Und wir schlafen auf der Straße“). Vielleicht kann | |
| man diese Beharrlichkeit mit dem Berliner Barden und Visionär Funny van | |
| Dannen fassen, der in einem seiner neueren Songs mit dem schönen Titel | |
| „Molekulare Müdigkeit“ meint: „Das geht nicht weg, das liegt an der Zeit… | |
| Anders gesagt: Je schneller und anstrengender unser Leben im urbanen Dorf | |
| Berlin wird, desto größer wird auch unser Bedürfnis nach Entspannung und – | |
| Schlaf. | |
| 21 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
| ## TAGS | |
| Kunst | |
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