# taz.de -- VDW-Tagung „Wohin gehen wir - heute?“: Seitenblicke erwünscht | |
> Die Wirtschaft hat die Welt beschleunigt. Die Wissenschaft aber ist zu | |
> langsam, zu engstirnig und zu abhängig. Experten fordern eine neue | |
> Wissenschaftskultur. | |
Bild: Leerlauf in der Universität? Banner beim Bildungstreik in Stuttgart 2009. | |
56 Wartesemester bleiben ihm nach eigener Rechnung noch. Dann wäre Student | |
Tobias Orthen knapp 50 und dürfte vielleicht langsam einsteigen, in den | |
wissenschaftlichen Diskurs über Ökologie, Nachhaltigkeit, Soziale | |
Gerechtigkeit. Und darüber, was das eigentlich mit seinem Studienfach | |
Physik zu tun hat. | |
„Obwohl wir uns gern an der Diskussion der Lösungsvorschläge beteiligen | |
wollen“, sagt Orthen, der an der Uni Kiel im vierten Semester studiert, | |
„laufen die relevanten Diskussionen bisher häufig ohne uns Studierende ab.“ | |
Da seit der Einführung des Bachelor-Master-Systems der Stoff viel geraffter | |
vermittelt wird, können Fragen nach der Verantwortung der Wissenschaft | |
meist nur angerissen werden. Um neben dem Curriculum eine Plattform für | |
Information, Diskussion und Aktion anzubieten, hat Orthen mit Kommilitonen | |
eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen: die Kieler W-Events. Sie | |
beschäftigen sich in Anlehnung an den 2007 verstorbenen Physiker Carl | |
Friedrich von Weizsäcker mit „Weltethos, Weltinnenpolitik und weltweiter | |
ökosozialer Marktwirtschaft“. | |
Deshalb ist Orthen nach Berlin gekommen. Mit dem dreitägigen Podium „Wohin | |
gehen wir heute“ zum 100. Geburtstag Carl Friedrich von Weizsäckers | |
versucht sich auch die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VWD) an die | |
Fragen heranzutasten, die ihr Gründungsmitglied stellte. Was kann, was | |
darf, was soll Wissenschaft – und wer hat heute an ihr teil? Der Tenor der | |
Podien: Das aktuelle Wissenschafts- und Forschungssystem ist zu langsam, zu | |
engstirnig und vor allem nicht auf den kollektiven Erkenntnisgewinn | |
ausgerichtet. | |
„Wenn die Menschheit die heutige Entwicklung unkorrigiert weiterlaufen | |
lässt, so ist eine Katastrophe so gut wie gewiß“, schrieb Weizsäcker 1997 | |
in seinem Buch „Wohin gehen wir?“. Nicht nur dort reflektierte Weizsäcker | |
über Weltfrieden und mehr Gerechtigkeit - nachdem er zuvor bahnbrechende | |
Forschungserfolge im Bereich der Kernspaltung erzielt hatte, für die er | |
sich zeitweise auch in die Dienste des Naziregimes stellte. Im Buch heißt | |
es weiter: „Wir können das jeweilige Problem grundsätzlich durchschauen [�… | |
alle diese Probleme könnten durch gemeinsame intelligente Maßnahmen gelöst | |
werden. Aber die Frage ist, ob die Menschheit zu diesen Handlungsweisen | |
fähig ist.“ | |
## BWL ohne Nachhaltigkeit | |
Dieser Zweifel erweist sich auf dem Forum der VDW mehrfach als hochaktuell, | |
etwa wenn es um die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften und die der | |
wissenschaftlichen Bildung geht. „Was man weiß, kann man korrigieren“, | |
zitiert Claudia Kemfert den Großdenker. Die Ressortleiterin für Energie, | |
Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) | |
ergänzt: „Was wir wissen, ist, dass wir aus ökologischer und sozialer | |
Perspektive weit über unseren Verhältnissen leben.“ | |
Doch noch immer sei Nachhaltigkeit nicht bei den deutschen Lehrstühlen für | |
Wirtschaftswissenschaften angekommen, die wie Gläubige an neoliberalen | |
Gedanken festhielten. Und das, obwohl die bestehenden Modelle die | |
Finanzkrise der letzten vier Jahre kaum abbilden können. „Es ist | |
erstaunlich, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht in einer Krise sind“, | |
sagt Kemfert. | |
Was Wissenschaft kann und soll, hängt nicht zuletzt von politischen | |
Entscheidungen, etwa der Kultusministerkonferenz ab. Vor allem bei der | |
Auftaktveranstaltung „Welche Rolle hat die hochschulische Bildung?“ wird | |
das deutlich. | |
## Forschung unter Wettbewerbszwang | |
Für Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance | |
in Berlin, geht der Trend weg von einer Wissenschaft, die sich an | |
gesellschaftlichen Problemen orientiert und die schneller werdende Welt | |
erklärt. Dafür bräuchte es eine Lehre, die auch Seitenblicke auf andere | |
Fächer zulässt, und eine Forschung ohne den Zwang, ökonomisch verwertbar zu | |
sein. „Stattdessen sind die Studierenden und auch die Forschenden in den | |
vergangenen Jahren in einen Wettbewerb getrieben worden, der das kaum noch | |
zulässt“, sagt Schwan. | |
So nahm zwischen 1995 und 2010 die Drittmittelquote an deutschen | |
Hochschulen laut Statistischem Bundesamt von 14,5 auf 26 Prozent zu, knapp | |
70 Prozent davon sind öffentliche Gelder. Während die einzelnen Lehrstühle | |
nun erbittert um die Mittel kämpfen, was sich durch die Exzellenzinitiative | |
seit 2006 noch verschärfte, hatte die Lehre von der Verschiebung von | |
öffentlichen Grund- zu Drittmitteln nichts. Denn Fördermittel werden nur | |
für exzellente Forschung vergeben. „Wir verändern die Hochschullandschaft | |
gerade irreversibel“, sagt Ulrich Bartosch, Vorsitzender der VDW. | |
Da ist zum einen die thematische Verengung auf für die Wirtschaft | |
interessante Forschungsfelder. Zum anderen sind laut der Gewerkschaft für | |
Erziehung und Wissenschaft fast 90 Prozent der wissenschaftlichen | |
Mitarbeiter an deutschen Universitäten befristet angestellt, häufig auf der | |
Basis von projektgebundenen Drittmitteln. | |
## „Weltinnenpolitik“ gebraucht | |
Abgesehen davon, dass die Unsicherheit die Forschungsqualität dieser | |
Mitarbeiter beeinträchtigt, treibt VDW-Mann Bartosch vor allem eines um: | |
Was bedeutet es, wenn eine solche Abhängigkeit der Forschung von der | |
Wirtschaft besteht? Und „was bedeutet es, wenn wissenschaftliche | |
Mitarbeiter und Universitäten aus finanziellen Zwängen heraus als | |
Unternehmer auftreten und ihre Erkenntnisse geheim halten müssen?“ | |
Dann würde die Wissenschaft der Gesellschaft nicht mehr dienen können, wie | |
Weizsäcker es einmal mit dem Begriff „Weltinnenpolitik“ beschrieben hat: | |
Verschiedene Menschen bringen Erkenntnisse und Ideen zusammen und machen so | |
als Kollektiv die Welt greifbarer und sicherer. | |
Doch die Universitäten sind nicht das einzige Problem. Jenny Schmithals ist | |
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner nexus-Institut. Die studierte | |
Umwelttechnikerin und Soziologin bekam 2002 eine volle und unbefristete | |
Stelle für ihre Forschungsarbeiten im Bereich Sozialökologie. Damit wollte | |
das Institut auch ein Zeichen gegenüber den Hochschulen setzen, sagt | |
Hans-Liudger Dienel, Geschäftsführer des nexus Instituts. Doch wie viel zu | |
tun war und wie lange sie beschäftigt sein würde, hing gleichwohl immer von | |
der Projektlage des als GmbH organisierten Ablegers der TU Berlin ab. „Das | |
bedeutet, dass man ständig nur in der Akquise ist, ständig neue Projekte | |
auf den Weg bringen muss und dafür viel Energie aufwendet“, sagt | |
Schmithals. | |
Im Jahr 2004 bewarb sich das nexus-Institut gemeinsam mit der TU Berlin mit | |
einem Projektvorschlag für ein Forschungsvorhaben rund um nachhaltige | |
Stadtentwicklung in künftigen Megacities um Fördergelder des | |
Bundesministeriums für Forschung, wozu die Wissenschaftler | |
Kooperationsnetze zwischen Instituten in ganz Deutschland und | |
Partnereinrichtungen im iranischen Teheran aufbauten. Ein zweites Angebot | |
beschäftigte sich mit der indischen Megacity-Region Hyderabad. | |
In den beiden städtischen Regionen finden sich viele Beispiele für die | |
komplexen Problemlagen in Megastädten: Prognosen gehen von einem | |
Bevölkerungswachstum auf voraussichtlich 10,5 Millionen EinwohnerInnen bis | |
zum Jahr 2015 um Hyderabad aus - ökologische und soziale Schieflagen sind | |
absehbar. Deshalb wollten Schmithals und ihre KollegInnen Strategien | |
erarbeiten, um die Zivilgesellschaft vor Ort zu mehr ökologischem | |
Bewusstsein zu führen. | |
## Zukunftsfragen spielen keine Rolle | |
Sie erhielten eine lose Zusage des BMBF und gingen in Vorarbeit. Doch nach | |
der vorgezogenen Bundestagswahl 2005, die mit Annette Schavan eine neue | |
Forschungsministerin brachte, standen die Zusagen wieder auf der Kippe. Es | |
sollte einen neuen Schwerpunkt des Ministeriums geben - „ob wir mit | |
ökologischem urbanem Wachstum eine der Zukunftsfragen behandelten, spielte | |
da offenbar keine Rolle“, sagt Schmithals. | |
Als Institut, das zu Möglichkeiten der sozialen Vernetzung forscht, ist das | |
nexus-Institut hauptsächlich von öffentlichen Drittmitteln abhängig, die es | |
im Fall der Megacities schließlich noch im abgespeckten Umfang bekam. Doch | |
es war eine Zitterpartie. „Wir entwickeln nun mal keine Technik, sondern | |
soziale und ökologische Konzepte“, sagt Schmithals. Für die Industrie ist | |
das nicht interessant - noch nicht. | |
Schmithals' Bruder studierte ebenfalls Umwelt- und Energietechnik, | |
spezialisierte sich dann aber auf die technologische Komponente. Er ist | |
heute an der Entwicklung von Brennstoffzellen und anderen alternativen | |
Antriebsformen beteiligt,nimmt Aufträge von Firmen wie Airbus an und | |
arbeitet nun bei der Volkswagen AG - um die Ausfinanzierung eines Projektes | |
muss er sich keine Gedanken machen. „Das erlaubt natürlich eine ganz andere | |
Forschungstiefe“, meint Jenny Schmithals. | |
## Wissenschaft lässt die Menschen allein | |
Fragen im sozialen und ökologischen Bereich in der globalisierten Welt sind | |
sehr komplex, manchmal zu komplex für einen Projektförderzeitraum von drei | |
bis fünf Jahren. Muss die Wissenschaft die Menschen also in einer Welt | |
allein lassen, die sie mit beschleunigt hat? | |
Stattdessen scheint die Wissenschaft die Menschen in einer Welt | |
alleinzulassen, die sie mit beschleunigt hat. Student Tobias Orthen macht | |
das für sich an zwei Punkten fest. Für die Studierenden wird es immer | |
schwieriger, neben dem straffen Studienplan auch in anderen Themenfeldern | |
nachzuforschen, selbst zu erkunden, interdisziplinäre Probleme zu erkennen. | |
„Dabei können das Verteilungsproblem unserer globalisierten Welt und der | |
Klimawandel nur generationenübergreifend gelöst werden,“ sagt der | |
22-Jährige, der bereits 2009 als Beobachter an der Unesco-Weltkonferenz | |
Bildung für nachhaltige Entwicklung in Bonn teilgenommen hat. | |
Das setzte jedoch teilhabende Bildung, nicht Ausbildung voraus. Außerdem | |
sei kaum Raum für transdisziplinäre Einblicke, wie sie die Studierenden nun | |
mit den W-Events an der Uni Kiel selbst planen. Orthen stört vor allem, | |
dass ihm in Diskussionen mit Freunden oder Wissenschaftlern Argumente gegen | |
den Neoliberalismus fehlen. „Ich lese viel zu Wirtschaftsthemen“, sagt der | |
Physikstudent. Doch die Komplexität nehme ständig zu und alles verändere | |
sich rasend schnell. „Hier hätte ich gern etwas mehr Durchblick, auch wenn | |
es nicht mein Fach ist.“ | |
## Credits bestimmen Uni-Alltag | |
Auf der Tagung des VDW hat er die Gelegenheit dazu. Die Zuhörer, unter | |
ihnen auffällig viele Studierende, drängen sich in den Pausen um die | |
Referenten, fragen nach oder bringen Gegenargumente. | |
„Auch in der Wissenschaft“, sagt Carmen Kaminsky, Professorin für | |
Sozialphilosophie an der FH Köln, „kommen wir nicht ohne mehr | |
philosophische Elemente aus, die uns die Produkte der Wissenschaft selbst | |
erklären.“ Produkte wie zum Beispiel Systeme für Hochfrequenzhandel an den | |
Börsen, an die viel Verantwortung ausgelagert wird. Doch momentan hätten | |
die Studierenden weder Zeit noch Muße dazu. | |
„Es kann nicht angehen, dass Credits bei den Studierenden und | |
Publikationsanzahl und Drittmittelsumme an den Instituten den ganzen | |
Unialltag bestimmten“, sagt Kaminsky. Stattdessen müsse viel mehr Wert | |
darauf gelegt werden, dass der wissenschaftliche Nachwuchs die Welt | |
begreifen und dann auch verändern könne. Stichwort: wissenschaftliche | |
Bildung. | |
Damit der Diskurs über eine neue Wissenschaftskultur in Gang kommen könne, | |
müsse die Politik jedoch zunächst finanziellen Druck herausnehmen. „Sonst | |
bekommt unsere Gesellschaft ernsthafte Probleme in der schnellen Welt, in | |
der sie lebt.“ | |
4 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Absolventenforscher über Studienreform: „Die Politik hat sich klar verkalkul… | |
Eine Studie zeigt: 75 Prozent aller Bachelorabsolventen machen anschließend | |
den Master. Vielen fehlen die persönlichen Vorbilder, meint | |
Absolventenforscher Briedis. | |
Forschung zu Nachhaltigkeit: Notwendige Neuorientierung | |
In Deutschland formiert sich eine Wissenschaftler-Allianz für mehr | |
Nachhaltigkeit und Transformation. Experten für Umwelt und Naturschutz | |
werden rarer. | |
Finanzierung von Hochschulen: Gut gestellte Unis bekommen mehr | |
Nur 20 Hochschulen teilen sich 60 Prozent der eingeworbenen Drittmittel. | |
Dieser Konzentrationsprozess geht weiter. Aufsteiger im Förderwettbewerb | |
sind die Ausnahme. |