| # taz.de -- Die Mutter des „50 Shades“-Erfolgs: „O ja“, „Puh“, „O… | |
| > Wer steckt hinter dem sagenhaften Erfolg des Sexromans „Shades of Grey“? | |
| > Die Geschichte von E. L. James, der das Mutter- und Angestelltendasein | |
| > nicht mehr reichte. | |
| Bild: Mit SM- und Fesselspieln auf die Bestsellerlisten: „Shades of Grey“ v… | |
| Es war einmal vor langer, langer Zeit ein schottisches Mädchen mit | |
| dunkelbraunen Augen, das auf den Namen Erika, die Ehrenreiche, die allein | |
| Mächtige hörte. Es wuchs in der Grafschaft Buckinghamshire auf und träumte | |
| davon, Geschichten zu schreiben, die die Menschen lieben. Sie ging hinaus | |
| in die Welt, studierte Geschichte und verdingte sich in der großen Stadt | |
| London an einer Film- und Fernsehschule. Auch privat war ihr das Glück | |
| hold. | |
| Sie ehelichte einen Drehbuchautor und gebar ihm zwei Stammhalter. Bald | |
| produzierte sie selbst Serien und andere Unterhaltungen fürs Fernsehen. | |
| Aufopferungsvoll widmete sie all ihre Kraft und Zeit dem Broterwerb und | |
| ihrer Familie. Ihren Traum vom Schreiben musste sie all die Jahre | |
| hintanstellen. Da begab es sich, dass sie von einer Krise heimgesucht | |
| wurde. Als sie mit ihrem Dasein haderte, entsann sie sich ihres | |
| Kindheitswunschs und begann zu schreiben. | |
| Erika war eine große Bewunderin einer Saga namens „Twilight“, einer | |
| keuschen Liebesgeschichte zwischen einer Schülerin und einem Vampir, bei | |
| der das Mädchen nicht genau weiß, ob es gebissen werden möchte oder nicht, | |
| und der Vampir nicht wirklich beißen möchte. Erika hatte noch nie einen | |
| Roman geschrieben und suchte Halt und Orientierung in der von ihr | |
| bewunderten Vampirgeschichte, deren Autorin sich ebenfalls an anderen | |
| Werken orientiert hatte. Erika dachte sich das romantische Pseudonym | |
| „Schneekönigins Eisdrachen“ aus und verfasste ihr erstes Werk: „Der Meis… | |
| des Universums“. Obgleich ihre Hauptfiguren die gleichen Namen wie das Paar | |
| in „Twilight“ trugen, ließ Erika sie gar unkeusche Dinge tun. | |
| Aus ihrer Feder flossen finstere, gewaltvolle, schmerzhafte Szenen voller | |
| Lust und Pein, Begierde, Züchtigung, Dominanz und Unterwerfung. Zu lesen | |
| war all das in einem Blog im modernen Internet, der viele Anhänger fand. | |
| Doch nicht alle ergötzten sich an den dunklen Fantasien, sodass Erika ihre | |
| Geschichten auf ihrer eigenen Seite veröffentlichte, der sie den Namen | |
| „Fünfzig Schatten“ gab. Sie änderte die Namen der Hauptfiguren, aus Bella | |
| und Edward wurden Anastasia und Christian, und schrieb ihnen ihre | |
| Sehnsüchte und Ängste auf den Leib. | |
| ## Keusch war gestern | |
| Ihr größter Wunsch war es, dass ihr Roman irgendwann in Buchhandlungen | |
| stehen würde. Dafür tat sie alles, was in ihren Kräften stand, und steckte | |
| all ihre Fantasie in ihre Figuren: Anastasia ist eine 21-jährige Studentin | |
| der Literatur, ein unerfahrenes Ding, das am liebsten mit einem britischen | |
| Klassiker allein in der Bibliothek sitzt und für ihren Lebensunterhalt in | |
| einem Baumarkt arbeiten muss. Sie hat keinen Computer, dafür aber noch ihr | |
| Jungfernhäutchen. Christian ist neun Jahre älter und ein unvorstellbar | |
| reicher Mann, der so märchenhaft gut aussieht, dass Anastasia seinen | |
| Anblick kaum ertragen kann. Er benutzt Stofftaschentücher mit Monogramm, | |
| verfügt über ein starkes Selbstbewusstsein und will immer alles unter | |
| Kontrolle haben. | |
| Schnell merkt Anastasia, die die wahre Liebe noch nicht kennt und noch nie | |
| so einen rätselhaften Mann getroffen hat, dass Christian ein dunkles | |
| Geheimnis in sich trägt. Sie verspürt Regungen in ihrem jungen Körper, die | |
| sie bisher nicht kannte. Aber Christian macht ihr auch Angst. Er ist kein | |
| Mann für zärtliche Stunden. Er will ihr Quellen der Lust zeigen, von deren | |
| Existenz sie nichts weiß, und macht ihre romantischen Vorstellungen | |
| zunichte, als er ihr das Geständnis macht: „Ich ficke hart.“ | |
| Anastasia fühlt sich abgestoßen und angezogen zugleich und ist fest | |
| entschlossen, ihren Traumprinzen von seinem Joch, das sie nur erahnen kann, | |
| zu erlösen. Knabbert sie an ihrer Unterlippe, was sie sehr oft tut, | |
| schimmern Christians graue Augen wie flüssiges Silber, und schon ist es um | |
| sie geschehen. Um den endlosen Strudel der Gefühle, in die Christian | |
| Anastasia stürzt, zu beschreiben, wählte Erika einfache Wörter, die jeder | |
| Leser sofort versteht: „Puh“, „Wow“, „O Gott“, „O nein“, „O j… | |
| „Hoppla“, „Oha“. | |
| Immer wieder taucht auch Anastasias Unterbewusstsein auf, ihre innere | |
| Göttin. Dieses spricht zu ihr, schaut ihr über die Schulter, spottet, | |
| keift, nickt zustimmend oder bringt sie zum Erröten. Anastasia schwankt Tag | |
| für Tag und Nacht für Nacht zwischen Anziehung und Abschreckung und gibt | |
| doch den Muskeln in ihrem Unterleib nach, die sich heftig zusammenziehen, | |
| sobald sie mit Christian zusammen ist. | |
| Erika wurde für ihre Mühe fürstlich belohnt. Ihre Geschichten erschienen | |
| als elektronisches Buch, und bald darauf fand sich ein kleiner Verlag im | |
| fernen Australien, der sie als Taschenbuch druckte. Überwältigt von diesen | |
| Nachrichten vertraute sie einem Freund unter dem Mantel der | |
| Verschwiegenheit eine Vision an. Sie hatte geträumt, vom Time Magazine zu | |
| einem Gespräch gebeten zu werden, weil sie das Verlagswesen neu erfunden | |
| habe. Erika, die sich als Autorin E. L. James nannte, E. L. sind die | |
| Initialen ihres wahren Namens Erika Leonard, war nicht mehr aufzuhalten und | |
| schrieb sich einen zweiten und dritten Band von der krisengeschüttelten | |
| Seele. | |
| ## „Bebende Woge der Begierde“ | |
| Die Kunde von Anastasia und Christian ging flugs von Mund zu Mund, bis ein | |
| großer Verlag in Amerika die drei Bände herausgab. Die Druckmaschinen | |
| liefen heiß, bis mehr als 20 Millionen Bücher versilbert waren. Damit | |
| übertraf Erika „Harry Potter“, das Erstlingswerk einer anderen Autorin, die | |
| sich nicht in einer persönlichen, aber in einer finanziellen Krise befunden | |
| hatte, und deren Werk lange Zeit als das schnellstverkaufte Buch der | |
| Geschichte galt. Die drei Bände wurden in 37 fremde Sprachen übersetzt, und | |
| schließlich erfüllte sich auch die verwegene Vision, die Erika gehabt | |
| hatte. | |
| Das Time Magazine beschäftigte sich tatsächlich mit ihr und ernannte sie zu | |
| einer der 100 einflussreichsten Menschen der ganzen Welt. „Ihre Worte | |
| verwandeln die Frauen des Landes in eine bebende Woge der Begierde.“ Erikas | |
| Kindheitswunsch hatte sich erfüllt! Die Menschen liebten ihre Geschichten. | |
| Besonders die weiblichen Leser in Amerika verschlangen ihre Geschichten, | |
| als wären sie eine Offenbarung. Erika hüpfte vor Freude in die Höhe und | |
| konnte ihr Glück kaum fassen. Es dauerte nicht lange, und flugs sicherten | |
| sich Filmproduzenten die Rechte an der Verfilmung für sagenhafte 5 | |
| Millionen Dollar. Erika war so überwältigt von den Geschehnissen, dass sie | |
| aufhörte zu arbeiten. Bald soll es Nacht- und Unterwäsche im Stil ihrer | |
| „Fünfzig Schatten“ geben. Was noch alles kommen wird, kann auch sie nicht | |
| in ihren kühnsten Träumen vorhersehen. | |
| ## James will eine neue Küche | |
| Nun hat ihr Buch auch Deutschland erreicht, das Land, in dem die Gebrüder | |
| Jacob Ludwig Karl und Wilhelm Karl lange Zeit vor ihr viele, viele Märchen | |
| verfasst haben. Der Goldmann Verlag versah den samtenen weinroten Einband | |
| von „Geheimes Verlangen“ mit einem Aufkleber „Weltbestseller“ und brach… | |
| es mit 500.000 Exemplare unters Volk. Im Handumdrehen landete das Buch ganz | |
| oben auf den Listen der meistverkauften Bücher. Band 2, „Gefährliche | |
| Liebe“, und Band 3, „Befreite Lust“, folgen im September und Oktober. | |
| Ohne ihren geliebten Gemahl hätte Erika das Buch nicht schreiben können. Er | |
| stellte sich ihren Obsessionen nicht in den Weg, sondern half ihr bei der | |
| Überarbeitung ihres ersten Werks und scheute auch nicht davor zurück, | |
| sexuelle Spielarten mit ihr auszuprobieren. Noch dazu legte er im Haushalt | |
| göttliche Qualitäten an den Tag. Ende gut, alles gut? Noch kann Erika ihr | |
| Glück nicht fassen. Sie hatte noch keine Zeit, sich Gedanken zu machen, wie | |
| sich ihr Leben verändern wird. Aber sie hat schon eine Idee, was sie mit | |
| einem erbsengroßen Teil des vielen, vielen Geldes, das ihr ihre Geschichten | |
| einbringen, machen wird. Sie will sich eine schöne Küche kaufen. Und weil | |
| sie jetzt im grellen Licht der Öffentlichkeit steht, hat sie sich schöne | |
| neue Kleider gekauft und die Fingernägel schön machen lassen. | |
| Ihr Protagonist Christian, so offenbarte sie, sei nur auf dem Papier | |
| attraktiv. Frauen würden sich im Alltag lieber einen Mann wünschen, der die | |
| Spülmaschine ausräumt. Auch bei ihrer schriftstellerischen Begabung legt | |
| sie Bescheidenheit an den Tag: „Ich bin ja keine so tolle Autorin.“ Und | |
| wenn sie nicht gestorben ist, dann schreibt sie noch heute unverdrossen | |
| weiter. | |
| 26 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Bollwahn | |
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