Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leben in Marzahn (Teil 2): Der weite Weg nach draußen
> Marzahn ist für viele Berliner das Synonym für Ghetto und sozialen
> Abstieg. Doch wie lebt es sich in Marzahn? Die taz ist in die Platte
> gezogen und blickt hinter die Fassade.
Bild: Und im Kino läuft der letzte Film unter der Woche um 20.30 Uhr.
ZWEITER TAG
7.30 Uhr Hektik am Morgen, denn die Fahrt in die Stadt zwingt uns, früher
aufzustehen als sonst. Wir trinken sauren Filterkaffee aus der
Kaffeemaschine, die zum Inventar der Wohnung gehört. Wir haben unsere
Espressokanne vergessen.
8.30 Uhr Die Fahrt mit der S-Bahn nach Friedrichstraße dauert 24 Minuten.
Aber wenn man gerade eine verpasst hat, kann es passieren, dass man 10
Minuten warten muss. Bin noch müde.
Als ich endlich am Arbeitsplatz ankomme, sind 50 Minuten vergangen – sehr
viel länger hätte es wahrscheinlich auch nicht gebraucht, die 15 Kilometer
mit dem Rad zu fahren. Nur hätte ich dann wegen der breiten Straßen auf dem
ganzen Weg mit den Folgen einer Bleivergiftung zu tun.
16 Uhr Nach dem frühen Feierabend ist die Versuchung groß, zu schwänzen und
die zweite Nacht im großen Bett zu Hause zu verbringen, zumal A. nach der
Kita gern mit ihren Freunden um die Ecke ein Eis kaufen und sich danach ins
laute Gebrumm auf ihrem Lieblingsspielplatz stürzen will. Ich kann sie nur
dadurch überzeugen, in die Tram nach Marzahn zu steigen, dass ich die
Ziegen an der Bockwindmühle preise.
Die Fahrt mit der Tram M8 vom Rosa-Luxemburg-Platz bis Alt-Marzahn dauert
eine knappe Dreiviertelstunde, und es ist spannend, zu beobachten, wie sich
die Klientel verändert.
Bis zur Mollstraße: Alles wie gewohnt.
Platz der Vereinten Nationen: Ein junger Mann mit einem hässlichen Hund
steigt ein. Der junge Mann trägt ein T-Shirt von der Pöbelband Böhse
Onkelz, der Hund einen Maulkorb.
Herzbergstraße: Ein eleganter älterer Herr aus Vietnam steht an der
Haltestelle gegenüber. Er hat sich leger ein dickes Bündel Kunstblumen
unter den Arm geklemmt, wie eine Zeitung. Die hat er sich im Dong Xuan
Center gekauft, das ist gleich hier.
17 Uhr Die Stadt ist ein Backofen. Es haben sich nur zwei Familien mit
insgesamt drei Kindern zur Bockwindmühle verirrt. Die Ziegen sehen toll
aus. Aber man darf sie nicht füttern und kann sie auch nicht streicheln,
weil die Maschen des Zauns zu eng sind. Eine alte Dame erzählt uns, dass
sie die Tiere nachts einsperren müssen. Einmal, sagt sie, ist hier nachts
einer über den Zaun geklettert und hat einer Ziege das Euter aufgeschlitzt.
Die Ziege ist verblutet. Das ist schlimm, denke ich. Aber es ist auch das
Schlimmste, was ich in drei Tagen über Marzahn zu hören bekommen werde.
20 Uhr Zu Hause. Kochen. Die Messer sind stumpf.
21.30 Uhr Endlich schläft A. Ich könnte noch ins Lara Beach nebenan, ein
Laden, der gleichzeitig Restaurant und Cocktailbar sein will. Aber im Lara
Beach sitzt schon keiner mehr. Und im Kino am Eastgate? Da läuft der letzte
Film unter der Woche um 20.30 Uhr. Wir setzten uns also auf die roten
Kunstlederstühle im Wohnzimmer. Schauen aus dem Fenster mit Blick auf die
parkenden Autos. Vermissen unseren Balkon in Prenzlauer Berg.
Wir klappen den mitgebrachten Computer auf, eine alte DVD hatten wir
eingesteckt. Der Film, alaska.de mit Jana Pallaske in der Hauptrolle hatte
uns, als er ins Kino kam, gefallen. Jetzt kommt uns alles im Film falsch
vor. Jana Pallaske spielt ein junges Mädchen, das vorübergehend zu seinem
Vater zieht, in ein Neubaugebiet, das an Marzahn und Hellersdorf erinnern
will. Wir können uns nicht vorstellen, dass es hier je so ausgesehen haben
soll: so kaputt, so gefährlich, so voller Müll. Im Internet finden wir eine
Rezension: Ein empörter Marzahner berichtet, er habe seine Schule im Film
wiedererkannt. Er beschreibt, dass die Hochbeete, die es dort gibt, am
Filmset mit Wellblech verdeckt wurden.
23.45 Uhr Das Doppelbett ist zu schmal für drei.
Teil 3 des Tagebuchs erscheint am Sonntagmorgen auf taz.de/berlin
28 Jul 2012
## AUTOREN
Susanne Messmer
Susanne Messmer
## TAGS
Vietnam
## ARTIKEL ZUM THEMA
Journalist bekommt Morddrohungen: Entenfleisch mit frischem Blut
Seit der Berliner Journalist Trung Khoa Le kritisch über die vietnamesische
Regierung berichtet, erhält er Morddrohungen.
Migranten in Marzahn: "Ich dachte, ich gehe kaputt"
Ali D. betreibt in Marzahn eine Eisdiele. Doch wohnen will er in dem
Viertel nicht. Dazu wird er noch immer zu oft angemacht.
Leben in Marzahn (Teil 1): Platte Attitüden
Marzahn ist für viele Berliner das Synonym für Ghetto und sozialen Abstieg.
Doch wie lebt es sich in Marzahn? Die taz ist in die Platte gezogen und
blickt hinter die Fassade.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.