# taz.de -- Leben in Marzahn (Teil 3): Elfgeschosser sausen vorbei | |
> Marzahn ist für viele Berliner das Synonym für Ghetto und sozialen | |
> Abstieg. Doch wie lebt es sich in Marzahn? Die taz ist in die Platte | |
> gezogen und blickt hinter die Fassade. | |
Bild: "Marzahn ist auch schön", sagt die Studentin Thao. | |
DRITTER TAG | |
7.15 Uhr Wir stehen noch etwas früher auf, aber A. und B. kommen wieder | |
nicht pünktlich los. Ich habe frei. Marzahn wäre ein guter Ort, den | |
sozialen Tod zu sterben. Man könnte in ein Land gehen, wo man die Sprache | |
nicht spricht. Man könnte auf die einsame Insel gehen. Oder nach Marzahn. | |
Sitze an der Küchenbar. Starre auf parkende Autos. Trinke drei Tassen | |
Kaffee. Lese Zeitung. Packe schon mal Koffer. | |
9.30 Uhr Lasse mir bei A-Nails hinterm Kaiser’s von einer vietnamesischen | |
Studentin die Fußnägel giftig grün lackieren. Die Studentin heißt Thao, was | |
„Höflichkeit“ bedeutet, sagt sie. Sie ist für Vietnamesinnen ungewöhnlich | |
rund und lebt erst seit drei Monaten in Berlin: Ihr Deutsch ist schon ganz | |
gut. Sie studiert Facility Management an der Hochschule für Technik und | |
Wirtschaft am Tierpark, sagt sie. Das Studium sei teuer, aber ihre Familie | |
könne es sich leisten. | |
„Ich finde Berlin schön“, sagt sie. | |
„Auch Marzahn?“ | |
„Marzahn ist auch schön. Ich habe in Deutschland keine Verwandten.“ | |
„Und da sind Sie froh, dass es hier viele Vietnamesen gibt?“ | |
„Wir helfen uns. Ich habe gleich diesen Job hier gefunden.“ | |
„Aber ist es nicht ein bisschen langweilig?“ | |
„Wo ich groß geworden bin, da war es auch so.“ | |
„Wo war das denn?“ | |
„In einem Vorort von Hanoi.“ | |
Ich kann Thao nur mit Mühe abhalten, mir French Nails zu verpassen, mit | |
weiß gefärbten Nagelspitzen, etwas Glitzer und Blümchen vielleicht. Nur 50 | |
Euro, sagt sie lächelnd. Ich bedanke mich so höflich wie möglich. | |
11 Uhr Termin mit der Hausverwaltung. Ich will mir eine Wohnung ansehen, | |
die wirklich zu vermieten ist. Die Wohnung befindet sich ebenfalls am | |
Helene-Weigel-Platz, in einem der vier schicken, gelben Hochhäuser im 17. | |
Stock. Sie hat drei helle, große, quadratische Zimmer, jedes mit Zugang zu | |
einer breiten Loggia, und ein weiteres Zimmer mit kleiner Loggia. Die | |
Wohnung ist genauso groß wie meine Wohnung in Prenzlauer Berg: 94 | |
Quadratmeter, aber besser geschnitten. Und vor allem: Sie kostet ein | |
Viertel weniger. 780 Euro statt 1.030 warm. Das sind genau 3.000 Euro | |
Differenz im Jahr. | |
Ich denke kurz darüber nach, was man mit 3.000 Euro im Jahr alles anstellen | |
kann, aber zum Glück vergeht das bald wieder und kommt auch nicht wieder, | |
als ich einen kurzen Blick vom Dach des Hochhauses werfen darf: Ja, es ist | |
gigantisch. Ja, es ist viel grüner, als es von außen wirkt. Und: Ja, ich | |
kann es mir vorstellen, wie das alles auf die ersten Mieter vor 30 Jahren | |
gewirkt haben muss. Aber. | |
12.30 Uhr Muss mich losreißen. Denn was ich unbedingt noch machen will, ist | |
eine lange Spazierfahrt mit dem Auto – eine Fahrt, wie man sie sonst nur in | |
Autostädten wie Peking oder Los Angeles machen würde. | |
Elfgeschosser sausen vorbei. Sechsgeschosser. Wohntürme. Eine Imbissbude. | |
Hagebuttensträucher. Tramhaltestellen. Hagebuttensträucher. Elfgeschosser. | |
Wohntürme. Heiner Müller hat in so einem Wohnturm gewohnt, beim Tierpark, | |
wegen des weiten Blicks. Trotzdem hat er zu solchen Wohnungen „Fickzelle | |
mit Bad“ gesagt. Man kann auch „Wohnbatterien für Nutzmenschen“ sagen, d… | |
stammt wohl von Konrad Lorenz, dem Tierpsychologen. | |
Es heißt, das Klima im Norden Marzahns sei rauer als im Süden, es gebe mehr | |
Probleme, denn hier konzentrieren sich mit 20 Prozent die meisten Menschen | |
mit Migrationshintergrund. Also schlage ich mich nach Norden durch. Es geht | |
vorbei an den Gärten der Welt, wo es das herrlichste chinesische Teehaus | |
außerhalb Chinas gibt. Hier soll 2017 die Internationale Gartenausstellung | |
stattfinden. Ich frage mich, warum, denn schöner kann es da kaum werden. | |
14 Uhr Landung im angeblichen Problemkiez Havemannstraße in Nordmarzahn. | |
Ich passiere die Ahrensfelder Terrassen. Hier hat die Degewo 2004, als noch | |
viel mehr Leerstand war als heute, Elfgeschosser zu drei- bis | |
sechsgeschossigen Terrassenhäusern zurückgebaut. Nun wohnen darin eher | |
bessergestellte Familien. Die Aufwertung scheint zumindest angeschoben zu | |
sein. | |
14.30 Uhr Wittenberger Straße, im sogenannten Kulturhochhaus. Hier gibt es | |
die Pension 11. Himmel, einen Kinderkeller und einen Nachbarschaftstreff, | |
wo man Bücher und Spiele ausleihen kann. Ich werde von einem 24-Jährigen in | |
Empfang genommen, den hier alle „Schätzchen“ nennen. Er drückt mir ein ro… | |
Eisgetränk namens Monster Slush in die Hand und nimmt mich mit zu einem | |
Spaziergang. | |
Der junge Mann heißt Eik Schmiljun, das kommt aus dem nordischen | |
Sprachraum, sagt er in seiner wohlerzogenen Art, und bedeutet „Eiche“ und | |
„schmaler Junge“. Beide Namen passen zu ihm. Seine Eltern kamen Ende der | |
Achtziger aus Halle, zogen zuerst in den Baumschulenweg, dann wurde mit den | |
Kindern die Wohnung zu eng. Sie mochten Hellersdorf, auch wenn es dort | |
anfangs nicht mal Straßen gab, sondern nur Sandwege. | |
Eik arbeitet ehrenamtlich im Kulturhochhaus, er ist ausgebildeter Erzieher | |
und studiert Sozialarbeit. Stolz zeigt er auf einen Tintenfisch und einen | |
Riesenpilz auf der Wiese hinterm Haus, den seine Kinder selber gebastelt | |
haben. „Die wissen nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien oft | |
nicht, wohin mit sich“, sagt er. Da schiebt ein Neunjähriger einen | |
Kinderwagen vorbei und begrüßt Eik mit Handschlag. | |
15.45 Uhr Wir verlassen den Hof. Eik kennt jeden Mülleimer in der Gegend. | |
Auf mich wirkt es genauso aufgeräumt wie weiter südlich am | |
Helene-Weigel-Platz. Der automatische Türöffner zum Einkaufszentrum mit | |
Netto, Kik und der Kneipe „Eichen-Keller“ funktioniert nicht. Auf der | |
anderen Seite, an der Tram-Haltestelle Niemegker Straße, brüllt eine Frau | |
ihren Mann auf Russisch an. Eiks Gesicht ist ein Manifest für diesen Kiez. | |
Er lächelt entrückt wie ein junger Vater, der sein Kind gerade deshalb | |
liebt, weil es so hässlich ist. | |
16.45 Uhr Denke an ein Lied von Tocotronic. Es ist auf ihrer Platte | |
„Digital ist besser“ von 1995. Da war ich so alt wie Eik heute. Es beginnt | |
so: „Fahr doch mit dem Fahrrad in ein anderes Stadtgebiet. Sag Hallo zu | |
einem Mädchen, das dich erst mal übersieht.“ | |
17.00 Uhr Würde gern länger bleiben. | |
29 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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