| # taz.de -- Debatte Wirtschaftskrise: Eine tägliche Dosis Gift | |
| > Das von den Neoliberalen attackierte Sicherheitsgefühl macht nicht | |
| > antriebslos. Im Gegenteil: Angst lähmt jeden einzelnen Menschen – und die | |
| > Unternehmen. | |
| Bild: Die permanente Unsicherheit, die Angst vorm Absturz, lähmt uns. | |
| Wie wir zur „Sicherheit“ stehen, das hängt verdammt davon ab, wie man | |
| fragt. „Würden Sie das ’Risiko‘ der ’Sicherheit‘ vorziehen?“ Eher … | |
| „Aber vielleicht die ’Freiheit der ’Sicherheit‘“? Womöglich schon. | |
| Wir haben die Phrasen im Ohr, mit denen in den vergangenen Jahrzehnten von | |
| „Wirtschaftsvertretern“ gegen die „Vollkaskomentalität“ polemisiert wu… | |
| gegen das Bedürfnis der Bürger, in einen Wattebausch aus „Sicherheit“ | |
| gehüllt zu werden. Das Sicherheitsbedürfnis des Spießbürgers wurde übrigens | |
| auch von den Punks verlacht – Motto: „No risk, no fun“. Welch bizarre | |
| Liaison. | |
| Seit dem Absturz in die Wirtschafts- und Finanzkrise aber haben wir nicht | |
| nur ökonomische Probleme, auch das Gefühl der Unsicherheit frisst sich in | |
| die reichen Industriegesellschaften hinein. Ja, so ein eigentümliches | |
| Unsicherheitsgefühl, das sich ausbreitet, in jeden Einzelnen hinein. | |
| Es wirkt wie eine tägliche kleine Dosis Gift, sodass wir mit einem Mal | |
| dauernd Leuten begegnen, die Angst haben. Angst, ob morgen noch genug Geld | |
| für die Miete da ist. Ob das Ersparte für die Rente reicht, ob für die | |
| Ausbildung der Kinder. Gibt es morgen noch Kunstsubvention vom Staat? | |
| ## Auf dem Geld sitzen | |
| „Das Wichtigste wäre jetzt, den Menschen wieder das Gefühl von Sicherheit | |
| zu geben“, sagt der US-Ökonom James K. Galbraith und fügt den für einen | |
| Keynesianer erstaunlichen Satz hinzu: „Im Augenblick würden | |
| Konjunkturprogramme verpuffen. Die Leute würden auf dem Geld sitzen | |
| bleiben.“ | |
| Wieso das? Konjunkturprogramme wirken, weil der Staat Nachfrage generiert | |
| und damit Geld in die Wirtschaft pumpt. Die Unternehmen investieren, die | |
| Beschäftigten konsumieren, so kommt der Wirtschaftskreislauf wieder in | |
| Schwung. In der Theorie. | |
| Was aber, wenn die Unternehmer nicht investieren, weil sie vom | |
| grassierenden Unsicherheitsgefühl angesteckt sind, und sich das mit ein | |
| paar Finanzspritzen und Notfallhandwerkereien nicht verscheuchen lässt? Und | |
| die Beschäftigten das Geld sparen, weil sie nicht wissen, was das nächste | |
| Jahr bringt? Dann scheitert staatliche Politik. | |
| „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, das ist | |
| deshalb wohl der legendärste Satz des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, | |
| gesprochen auf dem Höhepunkt der Großen Depression der 30er Jahre, also in | |
| einer sehr ähnlichen Situation wie der unseren. | |
| ## Paradoxer Kreislauf | |
| Gefühle sind ökonomisch nicht neutral, die Furcht kann vielmehr das | |
| Befürchtete erst herbeiführen, wie die Kollegen vom | |
| „Herdentrieb“-Wirtschaftsblog der Zeit jüngst zeigten. „Indem wir erstens | |
| Italien, Spanien und all die anderen im Unsicheren lassen, erhöhen wir zwar | |
| den Reformdruck. Zugleich aber treiben wir die Länder damit dem Ruin | |
| entgegen, weil es genau diese Unsicherheit ist, die das Kapital vertreibt | |
| und die Investitionsbereitschaft lähmt. Griechenland ist ein | |
| Paradebeispiel. Die Krise ist dort auch deshalb so gravierend, weil niemand | |
| in einem Land investiert, wenn er nicht weiß, ob es nicht die Deutschen | |
| nächste Woche aus der Währungsunion werfen.“ Probleme verursachen | |
| Unsicherheit, und die verschärft – oder verursacht erst – die Probleme. So | |
| paradox ist das. | |
| Zwar ist die Marktwirtschaft auf Unsicherheit begründet (da Unternehmer nie | |
| mit Sicherheit im Voraus wissen, ob sich ihr Investment rentiert), aber das | |
| Unsicherheitsgefühl ist Pest für sie: Ohne den Optimismus, der aus dem | |
| Sicherheitsgefühl resultiert, kann sie nicht brummen. | |
| John Maynard Keynes, der als Erster gezeigt hat, dass deshalb eine | |
| Volkswirtschaft langfristig unter ihren Möglichkeiten bleiben kann, wurde | |
| deshalb nicht zufällig der „Ökonom der Unsicherheit“ genannt. Hyman Minsk… | |
| sein originellster Nachfolger, hat in seinen Studien gezeigt, wie der | |
| „Anstieg der Ungewissheit“ gerade im Finanzsektor kontraktiv wirkt, und | |
| dass es gerade die Abwechslung von Euphorie und Ungewissheit ist, die im | |
| Kapitalismus zu Instabilität führt. | |
| Wenn man das erst einmal begriffen hat, dann ist das durchaus keine | |
| Kleinigkeit. Denn die konservative Wirtschaftsideologie hat „Sicherheit“ | |
| jahrelang mit Lahmheit, Faulheit, Antriebslosigkeit gleichgesetzt. Aber das | |
| Gegenteil ist der Fall: Unsicherheit führt zu Antriebslosigkeit, dagegen | |
| kann Sicherheit Energien freisetzen. Und das stimmt für die | |
| makroökonomische Ebene einer ganzen Volkswirtschaft genauso wie für jeden | |
| einzelnen Wirtschaftsakteur. | |
| ## Das verunsicherte Kapital | |
| Gewiss schadet ein bisschen Risikogeist nicht, wenn man seine individuellen | |
| Talente entwickeln will. Wer aber von chronischer Unsicherheit befallen | |
| ist, der wird sich eher gar nicht mehr bewegen – und damit eher überhaupt | |
| nichts aus sich machen. Sicherheit ist vor allem jener – „sichere“ – Gr… | |
| auf dem sich Autonomie erst entfalten kann. | |
| Das war seit jeher das Paradoxon des Sozialstaats: Die Sicherheiten, die er | |
| garantierte, wurden zu mächtigen Kräften des Individualismus. Und | |
| umgekehrt, behindert Unsicherheit Individualität, wie der französische | |
| Sozialforscher Robert Castel formuliert: „Kann ein Arbeiter, von dem man | |
| Flexibilität erwartet, vielseitige Einsatzbereitschaft, | |
| Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und die Fähigkeit, sich ständig | |
| an Veränderungen anzupassen, all dies ohne ein Mindestmaß an Absicherung | |
| überhaupt leisten?“ | |
| Es ist kein Wunder, dass sich auch Wirtschaftshistoriker der Geschichte der | |
| Emotionen gewidmet haben, angefangen beim legendären französischen | |
| Gelehrten Lucien Febvre mit seiner Studie: „Zur Geschichte eines Gefühls: | |
| Das Bedürfnis nach Sicherheit.“ Endemische Angst ist eine der wichtigsten | |
| Quellen der Verrohung, wohingegen Sicherheit stets eine Kraft der | |
| Zivilisation war. | |
| Sicherheitsgefühl hat befreiende Wirkung, während Angst | |
| freiheitseinschränkende Wirkung hat. Wenn man jene, die in den | |
| Gefahrenzonen der Prekarität entlangschrammen, fragen würde, wovon sie | |
| gerne „befreit“ wären, dann würden die meisten wohl sagen: von der Angst. | |
| Von der ständigen Unsicherheit. | |
| „Sicherheit“ klang total altlinks, solange nur die kleinen Leute vom | |
| Unsicherheitsgefühl befallen waren. Jetzt, wo auch das Kapital – scheu und | |
| ängstlich, wie es ist – von leiser Panik erfasst ist, ist Sicherheit | |
| plötzlich gar nicht mehr so out. | |
| 31 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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