# taz.de -- Der Norden Kanadas: Ein Sommer mit Eisbär | |
> Bei einem Aufenthalt in der abgelegenen Lodge Nanuk an der Hudson Bay | |
> können Naturliebhaber Auge in Auge mit dem größten Landraubtier der Welt | |
> frühstücken. | |
Bild: Der Bär ist los – auf der Nanuk Lodge in Manitoba, Kanada. | |
Eben will ich meinen ersten Schluck Kaffee trinken, als er auftaucht. Ich | |
verlasse den Aufenthaltsraum und gehe nach draußen. Da ist er, groß, | |
zottelig, vom Regen durchnässt, der Pelz mehr grau als weiß. Mit | |
neugierigem Blick sieht er mich an. | |
Das fängt gut an. Es ist August und wir sind zur Nanuk Polar Bear Lodge an | |
die Hudson Bay in Manitoba im nördlichen Kanada gekommen. Wir wollen die | |
außergewöhnlichste Safari der Welt erleben. Auge in Auge mit dem größten | |
Landraubtier der Erde. Und das zu Fuß, ohne in einem gepanzerten Fahrzeug | |
zu sitzen. | |
Andy McPherson ist ausgebildeter Naturführer und Bärenexperte. Zusammen mit | |
Butch Saunders und Gordi Sincler, deren Großväter einst die Gegend | |
besiedelten, ist Andy für unsere Expedition verantwortlich. Gordi und Butch | |
kennen die Umgebung so gut wie ihre 303-Winchester. „Sie schießt noch immer | |
gerade wie ein Pfeil“, sagt Butch und streichelt über den Lauf. | |
Gordi nennt seine liebevoll „Uncle Tom“. Mit breitem Grinsen, das etliche | |
Zahnlücken preisgibt, erinnert sich Gordi, als vor Jahren ein Eisbär, den | |
sie „Big John“ nannten, auf der Suche nach etwas Fressbarem sogar bis in | |
die Küche kam. Nanuk wurde damals von Jägern genutzt, als Lager während der | |
Gänsejagd. Einen Zaun gab es damals noch nicht. | |
## Dicht am Bär | |
„Willkommen am Ende der Welt“, begrüßt uns Mike Reimer, Chef von Churchill | |
Wild und Eigentümer von Nanuk. Mike Reimer wusste schon lange um das | |
Potenzial der Lodge. Im Sommer, wenn die Bay eisfrei ist, ist der Bär los. | |
Bis zu 400 Eisbären kommen während der Monate, in der das Land grün und | |
schneefrei ist, berichtet Mike. Als das Anwesen zum Verkauf stand, zögerte | |
er nicht lange. | |
Am nächsten Tag verlassen wir Nanuk. Wir ruckeln durch die topfebene, | |
aufgeweichte Tundra. Allradfahrzeuge, sogenannte Quads, ziehen die | |
Anhänger, auf denen wir sitzen. Kein Zaun, kein rettendes Fahrzeug, das uns | |
umgibt. Näher können wir der Wildnis nicht mehr kommen. | |
Andy hat einen Bären erspäht, nur wenige hundert Meter entfernt. Jetzt geht | |
es zu Fuß weiter. Keiner spricht. Alle sind gebannt, warten auf | |
Anweisungen. Andy geht voraus, wir folgen ihm. Dicht an dicht, um den Bär | |
nicht aufzuschrecken. Doch er hat uns bereits erspäht. Neugierig hebt der | |
Bursche seine Schnauze. Andy gibt ein Zeichen, wir sollen stillstehen. Er | |
wartet ab, wie der Eisbär auf unsere Anwesenheit reagiert. Distanziert er | |
sich, werden wir uns nicht weiter nähern. Doch der Eisbär kommt näher. Mein | |
Herz klopft bis zum Hals. | |
Plötzlich ist er zwischen den Büschen verschwunden. Nervös trete ich auf | |
der Stelle, nur das Schmatzen der Gummistiefel auf dem matschigen Boden ist | |
zu hören. Wo ist der Bär? Da, zwei pelzige Ohren und ein schwarzes | |
Augenpaar tauchen zwischen grünen Sträuchern auf. Irgendwie knuddelig. | |
## Wilde Blaubeeren | |
„Hey Buddy, das ist nah genug.“ Andy spricht mit ruhiger, aber deutlicher | |
Stimme. Zwischen uns und dem Bären liegen etwa 20 Meter. Butch und Gordi | |
geben uns per Handzeichen zu verstehen: zurück auf den Anhänger. Die | |
Sicherheit der Gäste hat oberste Priorität – wir müssen den Anweisungen | |
folgen. | |
Fasziniert beobachten wir vom Anhänger aus unseren Eisbären, der hin und | |
wieder den Kopf in unsere Richtung hebt. „Er ist sich unserer Anwesenheit | |
sehr wohl bewusst“, sagt Andy. „Aber jetzt weiß er, dass wir keine Gefahr | |
für ihn darstellen.“ | |
Mag das Camp auch rustikal sein, das Essen auf Nanuk ist exquisit. | |
Selbstgebackenes mit wilden Blaubeeren, Cranberries und Schwarzen | |
Johannisbeeren, leckeren Eintopf und Wild mit eigenen Gewürzmischungen, | |
herrlich duftendes Brot und frische Salate. | |
Auf Nanuk ticken die Uhren anders. Den Zeitplan gibt die Natur vor. Wir | |
müssen uns nach Gezeiten und Wetter richten. Auch am nächsten Tag. Noch ist | |
die Flut am Morgen zu hoch, um den Fluss zu überqueren. Erst am späten | |
Vormittag können wir zu unserer Ganztagesexpedition aufbrechen. | |
Wir beobachteten Elche, Spuren von Eisbären und Wölfen, ein Beluga-Skelett | |
und unzählige Schwärme von kanadischen Gänsen in der mondgleichen Weite der | |
Küste. Doch von Bären keine Spur. „Wir arbeiten hart für euch, wir finden | |
die Bären“, sagt Gordi, als er in unsere enttäuschten Gesichter blickt. | |
## In Verteidigungsstellung | |
Wir erreichen die Mündung des Mistikokan-Flusses, der hier in die Hudson | |
Bay fließt. Ein Land, das für Butch eine besondere Bedeutung hat. Er zeigt | |
auf den Boden, wo noch spärliche Reste einer ehemaligen Besiedlung zu | |
erkennen sind. Hier lebten seine Vorväter vor mehr als 100 Jahren. Als sein | |
Blick in die Ferne schweift, verstehe ich, dass er einer der Letzten seiner | |
Generation ist, einer Kultur, die so reich und außergewöhnlich ist, die | |
doch mehr und mehr verschwindet, wie die Hütte, die sich hier einst | |
befunden hat. | |
Mit breitem Grinsen winkt uns Gordi zu sich. Er hat einen Eisbären an der | |
Küste ausgemacht. Noch ist er nur als kleiner Punkt am Horizont zu | |
erkennen. Butch und Andy packen ein Picknick aus. Alle hoffen wir, dass der | |
Bär näherkommt, während wir unsere Sandwiches kauen. Doch dann bleibt uns | |
der Bissen im Hals stecken. Der Wind dreht und trägt den Geruch von Käse | |
und Schinken Richtung Bay. Der Bär hebt kurz die Nase, schnuppert und ist | |
innerhalb von 30 Sekunden auf unserer Sanddüne angekommen. Butch und Gordi | |
reagieren sofort. Butch startet sein Quad, schirmt die Gruppe von rechts | |
ab, Gordi, Uncle Tom fest in Händen, stellt sich auf die linken Seite. | |
Andy, gerade mal 1,70 Meter groß, wirkt winzig im Vergleich zu dem | |
mächtigen Eisbär, der sich jetzt keine zehn Meter vor ihm befindet. Sein | |
Zureden nützt nichts, der Bär bleibt. Wir halten den Atem an. Andy greift | |
zur Schreckschusspistole und zielt. Pfeifend schießt eine Heulrakete am Bär | |
vorbei. Der Bär blickt kurz irritiert auf, als wisse er nicht so recht, was | |
er tun sollte, dann läuft er davon. Am Abend sind Butch und Gordi stolz: | |
zehn weitere Eisbären haben sie aufgespürt. | |
Als nach vier Tagen das Brummen des Buschflugzeugs über Nanuk ertönt, | |
watschelt wie zum Abschied ein Eisbär aus dem Gebüsch, posiert am Zaun für | |
Fotos und trottet von dannen. | |
11 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Birgit-Cathrin Duval | |
## TAGS | |
Reiseland Kanada | |
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