# taz.de -- Im linken Viertel von Athen: Der Ort für alle Menschen | |
> Im linken Athener Studentenviertel Exarchia werden Immigranten willkommen | |
> geheißen statt festgenommen. Ein Streifzug durch Athens Stadtteil der | |
> gelebten Solidarität. | |
Bild: Das Athener Studentenviertel Exarchia gilt seit jeher als bunter Stadttei… | |
ATHEN taz | An diesem Tag wird in Athen „aufgeräumt“. Ein Dutzend | |
Polizeibusse umzingelt den Omoniaplatz im Stadtzentrum, um Hunderte von | |
Immigranten festzunehmen, die dort als ambulante Händler arbeiten oder in | |
den umliegenden, teilweise leer stehenden Apartmentblocks leben. In Bussen | |
werden sie auf die Polizeiwache verfrachtet, wo man ihre Papiere überprüfen | |
wird. | |
Seit Kurzem geht die griechische Polizei hart gegen illegale Immigranten | |
vor. Einen Kilometer Luftlinie entfernt, im angrenzenden Stadtteil | |
Exarchia, hat sich fast zeitgleich eine Menschentraube aus Pakistanern, | |
Indern, Algeriern und Senegalesen vor einem Haus gebildet, das mit | |
Politplakaten und antirassistischen Bannern zugekleistert ist. | |
Einige verschwinden im Gebäude mit dem Schild, das die Inschrift „Steki | |
Metanaston“ („Einwanderer-Stammplatz“) trägt, andere unterhalten sich | |
angeregt an den Tischen davor. Hier in Exarchia, Athens Linkenviertel, | |
fühlen sich die Einwanderer sicher und willkommen. | |
## Die linken Ideale | |
Intellektuelle, Künstler, Studenten, Ärzte, Alternative, Anarchos, aber | |
auch Ausländer und viele Familien leben in diesem Viertel. Unrenovierte | |
Häuser mit neoklassizistischen Fassaden stehen dicht an dicht neben | |
schmucklosen 60er-Jahre-Bauten, fast kein Haus ist frei von Graffiti. | |
Üppige Grünpflanzen ranken von den Balkonen. | |
Neben zahlreichen Buchläden gibt es Schreibwarengeschäfte, Copyshops, | |
Plattenläden und Bars. Exarchia grenzt im Süden an das Athener | |
Stadtzentrum, im Norden an den schönen grünen Strefi-Hügel, und in seinem | |
Herzen liegt die geschäftige Plateia des Viertels mit Cafés, Parkbänken, | |
Freiluftkino und Bars. Das Steki Metanaston befindet sich direkt ums Eck. | |
Dort schreibt Kostas Argaliotis, Gründungsmitglied des Steki, einem Iraker | |
eine Adresse auf. Während die griechische Polizei in Athen Jagd auf | |
Illegale macht und Neonazis Einwanderer verprügeln, werden in Exarchia | |
Immigranten nach Kräften unterstützt: Hier bekommen sie Hilfe bei ihren | |
Aufenthaltsanträgen, ehrenamtlichen Rechtsbeistand, wenn Abschiebung droht, | |
Griechischunterricht und Räume, in denen sie sich austauschen können. | |
Das Steki lebt von den finanziellen Zuwendungen seiner Mitglieder und deren | |
ehrenamtlicher Arbeit. „Wir machen das, weil wir nach linken Idealen leben | |
wollen“, sagt Kostas, „und die Solidarität mit Einwanderern, Arbeitern, | |
politischen und sozialen Randgruppen, überhaupt Menschen in Not gehört | |
dazu.“ | |
Linke Ideale und politischer Aktionismus haben in Exarchia Tradition. Die | |
Technische Universität und viele Institute der Athener Universität befinden | |
sich hier, und schon im 20. Jahrhundert war es ein Viertel vor allem für | |
Studenten und Intellektuelle. Die ersten Studentenproteste in Exarchia | |
fanden bereits 1901 statt – und führten zum Rücktritt des Erzbischofs und | |
der Regierung. | |
1944 verschanzte sich hier die kommunistische griechische Befreiungsarmee | |
und lieferte sich Gefechte mit den konservativ-autoritären Kräften des | |
Landes. Berühmt wurde Exarchia aber 1973, als die von hier ausgehenden | |
Studentenproteste gegen die griechische Militärdiktatur zu deren Sturz | |
führten. Nach dem Ende der Diktatur zogen viele linke Organisationen und | |
Gruppierungen ins Viertel. Auch das Steki Metanaston ist eine dieser | |
politischen Gruppierungen in Exarchia. | |
## Anlaufstelle für alle | |
Ein verwahrlost aussehender Grieche baut sich vor Kostas Argaliotis auf. | |
„Ich bin Anarchist und muss etwas Politisches mitteilen“, unterbricht er | |
das Interview. „Die Polizei hat mir mein Taschenmesser abgenommen, obwohl | |
es legal ist, eines zu besitzen. Ich suche jemanden aus dem antistaatlichen | |
Raum, der mir hilft, mich zu verteidigen.“ Kostas vertröstet den Mann auf | |
später. „Zu unserer Gemeinde gehört auch eine problematische Randgruppe“, | |
sagt er. | |
„Dieser Mensch kommt zu uns, weil er das Gefühl hat, hier etwas finden zu | |
können.“ In dem freiheitlichen Klima von Exarchia können sich die | |
unterschiedlichsten Persönlichkeiten ausdrücken und entfalten. Und auch | |
Drogenabhängige wie dieser junge Mann haben in der liberalen Atmosphäre | |
ihren Platz. | |
Gerade in Krisenzeiten, wenn Armut, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und | |
Fremdenfeindlichkeit zunehmen und die Selbstmordrate steigt, ist die | |
ehrenamtliche Arbeit von Menschen wie Kostas überlebenswichtig. Auf | |
staatliche Hilfe wartet in Exarchia niemand – auch das hat Tradition. | |
Das Viertel hat viele willkürliche Polizeirazzien und Verhaftungen von | |
Alternativen, Studenten und Punks erlebt, insbesondere in den 80er Jahren. | |
Seit die Polizei wiederholt mit Steinhagel empfangen wurde, genießt es den | |
Ruf eines „Anarchoviertels“, obwohl Anarchisten hier nur eine kleine | |
Minderheit bilden. Das Verhältnis zwischen Staat, Polizei und den Linken in | |
Exarchia spitzte sich zuletzt 2008 zu, als ein Jugendlicher von der Polizei | |
erschossen wurde. Es folgten riesige Proteste, die von Exarchia auf ganz | |
Griechenland übergriffen. | |
## Bücher verkaufen um zu leben | |
Eine junge Frau mit kurz geschorenem Haar, einen Packen zerfetzter Bücher | |
in der Hand, spaziert am Steki vorbei und läuft weiter unten in den hippen | |
kleinen Plattenladen von Christos Triantis, einem Musiker und | |
Plattenlabelbesitzer. „Ich lebe seit letztem Jahr draußen neben dem | |
Basketballfeld“, sagt sie, „und verkaufe diese Büchlein, damit ich etwas zu | |
essen kaufen kann.“ | |
In Exarchia werden die wenigen Mittel, die vorhanden sind, weitergereicht: | |
Der Buchladen, der kaum etwas verkauft, verschenkt Bücher an die | |
Obdachlose, die diese an die anderen Ladenbesitzer des Viertels verkauft. | |
„Gerne würde ich dir ein paar abkaufen, aber heute war noch niemand im | |
Laden, und ich habe nichts in der Kasse“, sagt Christos. „Komm doch morgen | |
wieder.“ Das ist keine Ausrede, kein leeres Versprechen, auch wenn er von | |
seinem Geschäft kaum mehr leben kann. | |
Seit 2007 befinde sich alles im Niedergang, meint Christos, und am | |
schlimmsten dabei sei die Unsicherheit. „Jetzt heißt es wieder, die Drachme | |
kommt. Aber ich möchte neue Platten bestellen. Und nun frage ich mich: Kann | |
ich dieses Risiko eingehen?“ Er wird abwarten, und das Gefühl, nichts in | |
der Hand zu haben, wird bleiben. | |
## Glücklich beim Kaffee | |
Die Straße, in der sich sein Plattenladen befindet, führt an einer der drei | |
Gemeinschaftsküchen von Exarchia vorbei. Ein paar ältere Menschen warten | |
davor auf eine Gratismahlzeit. Georgios Tselepidis und Kostas Vogeros | |
beobachten das Geschehen vom Café gegenüber. „Wir sitzen hier, weil wir | |
noch die drei Euro für einen Kaffee haben“, sagt Georgios. | |
Angesichts einer Jugendarbeitslosenquote von 60 Prozent können sich die | |
beiden glücklich schätzen, Arbeit zu haben. Auch wenn sie wie die meisten | |
Erwerbstätigen kein volles Gehalt mehr beziehen. Beide arbeiten in einer | |
Klinik als Fachkräfte für Radiologie und bekommen seit eineinhalb Jahren | |
nur noch ein Viertel des früheren Lohns – wenn überhaupt. „Wir können ni… | |
sagen: Dieses Unternehmen nutzt mich aus, ich gehe woanders hin“, sagt | |
Georgios. | |
„Es gibt kein Woanders. Wir akzeptieren alles, damit wir zumindest einen | |
Laib Brot zu Hause haben.“ Seit „zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ | |
das Arbeitsrecht in Griechenland gelockert wurde, sind Vollzeitjobs ohne | |
Arbeitszeitbeschränkung, Sozial- bzw. Krankenversicherung und | |
Kündigungsfrist für 400 Euro im Monat zur Regel geworden – und sogar um die | |
muss man bangen. „Jeden Morgen habe ich Angst: Werde ich die Tür zu der | |
Firma noch offen finden?“, sagt Georgios. | |
Für die Zukunft hegt er keine Hoffnung. Das viel gepriesene Wachstum werde | |
es nicht geben, sagt er. „Wer wird sich etwas kaufen, wenn er nur noch 300 | |
Euro verdient? Die Investoren sind die Einzigen, die einen Aufschwung | |
erleben werden, weil die Löhne von 1.200 auf 300 Euro gesunken sind.“ | |
## Nicht nur Gerede | |
Kostas’ einzige Hoffnung ist deshalb, „dass die Gesellschaft ein solches | |
Maß an Armut erreicht, dass sie dagegen revoltiert.“ Neben gelebter | |
Nachbarschaftshilfe und Antistaatlichkeit ist die politische Diskussion die | |
dritte große Leidenschaft von Exarchia – zu jeder Tages- und Nachtzeit hört | |
man Menschen diskutieren. Aber es bleibt nicht nur beim Gespräch: | |
Ortsansässige klären in Versammlungen, Diskussionen und über Flyer darüber | |
auf, was die Krise bedeutet, wie sie entstanden ist und wie sie überwunden | |
werden kann. „Exarchia macht aus der Krise ein großes politisches Ding“, | |
sagt Kostas. | |
Vor dem Steki ist es mittlerweile ruhig geworden, Kostas Argaliotis sitzt | |
immer noch davor. Auch er unterhält sich mit zwei Nachbarn über die Krise | |
und die Politik. „Die Linke sieht nun, dass es darum geht, etwas für die | |
Armen zu tun, statt nur über sie zu sprechen.“ In jedem Viertel, auch | |
außerhalb von Exarchia, brauche man Gemeinschaftsküchen, ehrenamtliche | |
Arztpraxen und Depots für gespendete Medikamente, damit die Armut keine | |
„barbarische Formen“ annimmt. Die Linke folgt dem Beispiel Exarchias und | |
organisiert sich auch in anderen Vierteln. | |
„Was den Zusammenhalt angeht, bin ich zuversichtlich“, sagt Kostas, „aber | |
die soziale Mobilität wird zunehmen.“ Gerade sei beschlossen worden, | |
weitere 11,5 Milliarden Euro einzusparen. Das bedeute entsprechend mehr | |
Armut. Renten werden gekürzt, die ohnehin nur bei 300 Euro liegen, schwer | |
kranke Menschen bekämen keine Medikamente mehr. „Sollen wir diese Menschen | |
sterben lassen? Ich bin sicher, bevor es Tote gibt, wird die Gesellschaft | |
einspringen.“ | |
21 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Elena Beis | |
## TAGS | |
Griechenland | |
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