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# taz.de -- Kolumne Blicke: Die Bedürfnislosen
> Die Deutschen wollen vor allem eines: billig sein. Hier lässt sich eher
> der Atomausstieg durchsetzten als Steuergerechtigkeit und ein
> funktionierendes Gemeinwesen.
Bild: Billig heißt günstig, und umsonst heißt vergeblich.
Letzte Woche hat ein Italiener den Euro gerettet. Ganz allein. Die
Deutschen, immer etwas behäbiger und aufs Kollektiv genormt, haben erst
gestern nachgezogen.
Ob wir den Euro retten sollen, weiß ich nicht. Vor allem weil ich nicht
weiß, wer dieses „wir“ ist. Was ich weiß, ist, wer schuld an der Eurokrise
ist. An der Eurokrise ist der deutsche Arbeitnehmer und seine
Interessenvertretungen schuld. Der deutsche Arbeitnehmer ist ein
anspruchsloses Würstchen, sein einziges Anliegen ist es, billiger zu sein
als die anderen Europäer.
Das ist ihm gelungen – er ist wirklich billig zu haben. Wie 1933 denkt er
nur an Arbeit, Arbeit, Arbeit. Er zahlt in eine Rentenkasse ein, von der er
keine Rente bekommt, lässt sich von Charaktermasken wie Riester und
Maschmeyer Schrottpapiere andrehen, während die Deutsche Rentenversicherung
die Städte mit ihren Glasverwaltungscheußlichkeiten zupflastert – ein
dankbarer Untersuchungsgegenstand für jeden engagierten Parlamentarier.
Der deutsche Arbeitnehmer ist angeblich krankenversichert, zahlt aber im
Jahr durchschnittlich 380 Euro aus eigener Tasche. Das läuft zum Beispiel
so, wie ich kürzlich selbst testen durfte: Man geht in die Notaufnahme
eines Krankenhauses und zahlt 10 Euro, bevor auch nur jemand „Guten Tag“
gesagt hat. Vom Krankenhausarzt wird man nach vier Stunden Wartezeit – Lob
der Privatisierung – ermahnt, in den nächsten Tagen unbedingt noch zum
Hausarzt zu gehen. Und der nimmt dann noch mal 10 Euro.
## Der Sozialstaat beruht auf Erben
Brillen sind schon lange keine Kassenleistung mehr, beim Autofahren – ach
ja, ein Auto – muss man aber selbstverständlich eine tragen, Massagen sind
Luxus, schöne Zähne sowieso Privatsache. Der ganze sogenannte Sozialstaat
Deutschland beruht nur noch auf einem: auf dem Erbe. Mit dem werden die
Privathaushaltslöcher vom Musikunterricht für die Kinder bis zum
Auslandsurlaub und den Geburtstagsgeschenken gestopft, wird noch eben
schnell auf dem Immobilienmarkt mitgezockt, wird darauf spekuliert, dass
auch die Kleinen der nächsten Generation noch ein Leben führen können, das
früher bürgerlich hieß.
Gespräche mit Leuten, die noch zu den Armen „nach Hause“ gehen, mit
Sozialarbeitern und Hebammen etwa, zeigen, dass dort geschälte Kartoffeln
in der Dose als Gemüse durchgehen, was der ultimative Beweis ist, dass die
Kluft zwischen den Prolls und den anderen unüberbrückbar geworden ist –
Glückwunsch zum größten Niedriglohnsektor Europas.
Dass sich an diesen Zuständen irgendwas ändert, ist ausgeschlossen, worauf
nicht zuletzt Hans Magnus Enzensberges Beitrag in der
Oberschichtkampfschrift „Hauptstadtbrief“ verweist, der kürzlich der FAZ
beilag: Enzensberger wusste schon immer, woher der Wind weht.
In Deutschland lässt sich eher ein in seiner Dringlichkeit
diskussionswürdiges Unternehmen wie der Atomausstieg durchsetzten als
Steuergerechtigkeit und ein funktionierendes Gemeinwesen. Über
Enzensbergers Artikel hätte stehen sollen: „Get rich or die trying.“ Der
Rest ist egal – vor allem sich selbst.
13 Sep 2012
## AUTOREN
Ambros Waibel
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