# taz.de -- Debatten und Literatur: Das Buch als Erlöser | |
> Wir sprechen über das Internet, Europa, Krisenerfahrungen und | |
> Emanzipation – aber niemand beruft sich dabei auf die Literatur. Warum | |
> ist das so? | |
Bild: Darf's ein bisschen mehr sein? Der Leser erwartet von einem Buch nicht nu… | |
In den aktuellen Selbstverständigungsdebatten unserer Gesellschaft spielt | |
die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kaum eine Rolle. Niemand beruft | |
sich auf neue Romane, wenn es um das Internet oder um Europa, um | |
Krisenerfahrungen oder um die Frage geht, wie weit wir mit Emanzipation und | |
Selbstverwirklichung gerade gekommen sind; nur in | |
Integrationszusammenhängen wird gern darauf verwiesen, dass es inzwischen | |
immerhin deutschsprachige Autoren gibt, die keinen deutschen Namen tragen. | |
Warum ist das so? Warum fällt die Literatur, die sowohl in der alten | |
Bundesrepublik als auch in der DDR ein Brennpunkt der | |
Selbstverständigungsdiskurse gewesen ist, gerade aus ihnen heraus? Dazu | |
gibt es oft zwei Antworten. Die erste: Die Figur des engagierten | |
Schriftstellers, die diese Debatten in die Gesellschaft hineingetragen hat, | |
gibt es nicht mehr – was stimmt; die Öffentlichkeit braucht auch keine | |
moralisch integren Gegenfiguren zu den Politikern mehr. | |
Inzwischen interessanter ist die zweite Analyse. Sie lautet: weil die | |
Literatur nicht auf der Höhe der Zeit ist. Was bei Rettungsfonds und | |
Urheberrechtsfragen bestimmt auch so ist. Aber was, wenn es darüber hinaus | |
genau andersherum wäre? Was, wenn die Literatur bei den größeren, über die | |
unmittelbare Aktualität hinausgehenden Fragen gar nicht zu versponnen, | |
altbacken, in sich gekehrt wäre, sondern man sich nur irgendwie angewöhnt | |
hat, falsch auf sie zu hören? Was, wenn man von ihr viel zu eindeutige | |
Antworten erwarten und sie deshalb gerade verfehlen würde? | |
Jedenfalls sind gerade eine ganze Reihe von Romanen erschienen, die, ohne | |
überhaupt auf Debatte zu zielen, ganz implizit Analysen und | |
Beschreibungsmodelle enthalten, die für eine aktuelle Selbstverständigung | |
relevant wären. | |
## „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ | |
Was macht man zum Beispiel mit dieser Luise Tietjen, 27, aus Nora Bossongs | |
Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“? Nora Bossong beschreibt an | |
ihr durchaus eine Art Emanzipationsgeschichte – Luise Tietjen ist in einer | |
Dynastie von Familienunternehmern die erste Frau, die etwas anderes macht, | |
als nur zu repräsentieren und schön zu sein; nach vielen Verwicklungen | |
übernimmt sie schließlich den Familienbetrieb. Nur übernimmt sie damit, | |
Nora Bossong beschreibt es eindringlich, auch alle Zwänge und | |
Ich-Verfehlungen, die damit einhergehen. Luise Tietjen emanzipiert sich in | |
die Entfremdung hinein. | |
Mag sein, dass so ein komplizierter Befund für konkrete Eurodebatten nicht | |
anschlussfähig zu machen ist. Aber vielleicht resultiert ja ein Teil des | |
heutigen Unbehagens an der Gesellschaft nicht so direkt aus ökonomischen | |
Abstiegsängsten, wie viele Menschen sich das denken, sondern eben auch aus | |
der Erfahrung, dass Emanzipation nicht in die reine Freiheit führt, sondern | |
in komplexe Ambivalenzen? Dann würde Nora Bossongs Roman allein schon damit | |
zu einem wahrhaftigeren Bild der Gegenwart beitragen, indem er menschliche | |
Befindlichkeiten als kompliziert beschreibt und nicht als reine Reflexe von | |
Wirtschaftskrisen. | |
Ambivalenzen, das ist ein Schlüsselwort vieler interessanter Romane dieses | |
Herbstes; und man kann den Verdacht hegen, dass die Beobachtungsraster noch | |
nicht darauf eingestellt sind, das adäquat wahrzunehmen. Dass Romane | |
überhaupt auf dem Fundament komplexer Gegenwartsanalysen geschrieben sein | |
können, natürlich ohne in ihnen aufzugehen, ist etwas, was auch der | |
Literaturbetrieb selbst derzeit nicht so recht auf dem Schirm hat. | |
Es gibt viele eingehende, redliche Besprechungen einzelner Bücher. Aber was | |
die Verknüpfung von Literatur und Debatte angeht, kann man – mit der für so | |
einen Essay gebotenen Verkürzung – feststellen, dass sie in der im Moment | |
vorherrschenden Sicht gerade nicht über eine genaue Beschreibung von | |
Gegenwart funktionieren soll. | |
## Erwartungshaltung an Romane | |
Stattdessen erhofft man sich Romane, die, womöglich aus der Perspektive | |
eines angeblich wilden, wahren Lebens irgendwo da draußen (jedenfalls | |
jenseits der bürgerlichen Mittelklasse) geschrieben, wütend auf die | |
verkehrte Welt der Mainstreamgegenwart einschlagen. Oder man trägt an die | |
aktuellen Romane die Erwartungshaltung heran, dass sie die Gegenwart | |
transzendieren, indem sie wenigstens „winzige messianische Sprengkapseln“ | |
enthalten, die „Erlösung vom Bann des Alltäglichen“ versprechen, „Erlö… | |
von Schmutz und Schuld, die wir alle, schwache, böse, schutzbedürftige | |
Wesen, die wir sind, unablässig in uns und um uns anhäufen“. | |
So formulierte es die Autorin Sibylle Lewitscharoff kürzlich in ihren | |
Poetikvorlesungen – und diese alte These von der | |
Transzendierungsbedürftigkeit des Inhalts durch die Form findet sich | |
heimlich noch in vielen Abwehrbewegungen gegen einen allerdings viel zu eng | |
gefassten literarischen Realismus. Gegenwartsverdammungen gehen immer, | |
Gegenwartsbeschreibungen werden schnell mit dem Vorwurf der Affirmation | |
belegt. Als ob man sich mit ihnen die Finger schmutzig machen würde. | |
Dabei gibt es eben gerade jetzt so gute. So stößt man in Ulf Erdmann | |
Zieglers Roman „Nichts Weißes“ auf ein hochinteressantes und in dieser | |
Zusammenstellung originelles Geflecht von Motiven und Beschreibungsmustern, | |
das einen stellenweise ganz neu auf die Vorgeschichte der Gegenwart blicken | |
lässt. Ziegler erzählt von den Aufbruchsbewegungen der Sechziger. | |
Gesellschaftsmodernisierung durch Werbeästhetik, sexuelle Liberalisierung, | |
Poona. | |
Genauso bedeutsam sind in dem Roman aber die Einbindungen in die Religion, | |
die Zwänge der Herkunft und Benimmregeln einer Angestelltengesellschaft. | |
Dass für die Entwicklung der Bundesrepublik die Vorortsiedlungen und auch | |
die Kunsthochschulen ebenso wichtig waren wie die Protestbewegungen, macht | |
der Roman auch klar. | |
Und dann ist es wieder eine junge Frau, Marleen Schuller heißt sie diesmal | |
(ein Name, der einem im Gedächtnis bleibt), die einen Weg finden muss, in | |
dieser Gemengelage aus neuen Freiheiten und neuen Anforderungen ihr eigenes | |
Leben zu suchen. Das gelingt ihr in manchen Punkten ganz gut, in anderen | |
nicht so. Ambivalenzen, auch hier. | |
## Eine ganz normale Mittelklassenexistenz? | |
Es wäre verfehlt, Ulf Erdmann Zieglers so kühlen wie stilbewussten Roman | |
auf das Moment von Gesellschaftsbeschreibung zu reduzieren. Aber wahrnehmen | |
sollte man unbedingt, dass hier ein neuer literarischer Sinn für die | |
Kompliziertheiten und Suchbewegungen dessen ausprobiert, ja vielleicht auch | |
erst erfunden wird, was man oft noch leicht gehässig eine ganz normale | |
Mittelklassenexistenz nennt. | |
Und irgendwie hat man den Eindruck, dass genau so ein Sinn in vielen | |
aktuellen Selbstverständigungsdebatten, gerade auch den linken, immer noch | |
fehlt. Womöglich würden die aus ihm folgenden notwendigen Differenzierungen | |
beim zurzeit debattentypischen Vereinfachen und Zuspitzen stören? Mehrheit | |
und Mittelklasse, das wird in diesen Debatten oft noch als homogene, | |
verführbare oder auch gefährdete Masse verstanden. | |
Natürlich ist mit Differenzierungen der Euro womöglich auch nicht zu | |
retten. Aber dass man in Wirklichkeit erst dann auf der Höhe der Zeit und | |
ihrer Ambivalenzen ist, wenn man von individuellen Lebensläufen erzählt – | |
ihren Zuckungen, Verfehlungen, Umwegen, aber auch von ihren Freiheiten, | |
ihren Schönheiten und ihrer Würde –, das zeigt sich in diesem Herbst vor | |
allem in den Romanen. | |
Auch in Stephan Thomes neuem Roman „Fliehkräfte“. Es wäre ganz falsch, | |
dieses Buch, das um die Lebenszwischenbilanzen des 59-jährigen | |
Philosophieprofessors Hartmut Hainbach herumgebaut ist – diesmal hat also | |
ein Mann Ambivalenzen auszuhalten und zu verarbeiten –, auf einen Roman | |
über eine Midlifecrisis zu reduzieren. | |
Vielmehr handelt es wenigstens untergründig davon, was alles in so einem | |
Leben zusammenläuft, selbst wenn man, wie Hartmut Hainbach, nie wirklich im | |
Zentrum der Ereignisse gestanden hat: nahe Begegnungen und unterdrückte | |
Gefühle, Philosophiedebatten und Universitätsintrigen, beiläufige | |
Glücksmomente und große, existenzielle Selbsthinterfragungen bei | |
Beziehungskrisen. Während viele Debatten die Gegenwart auf das Hier und | |
Jetzt einer aktuellen Krise und möglicher Lösungsszenarios | |
zusammenschrumpfen, kann man bei Stephan Thome ganz nebenbei etwas von | |
ihrer Tiefe in einem ganz normalen Leben verstehen. | |
Sibylle Lewitscharoff hat ihren Poetikvorlesungen den Titel „Vom Guten, | |
Wahren und Schönen“ gegeben. Eine Poetik, die die wirklich interessanten | |
Aspekte der Gegenwartsliteratur behandelt und vielleicht irgendwann auch in | |
die Bilder unserer Gegenwart einbaut, die den Debatten zugrunde liegen, | |
müsste eher vom halbguten, vom ambivalenten und immerhin auch vom bunt | |
schillernden Leben handeln. Und davon, dass man keine Erlösung braucht, um | |
es interessant zu finden. | |
23 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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