| # taz.de -- Elbphilharmonie Plaza überzeugt: Brahms im Uterus | |
| > Lange vor der Fertigstellung gibt es am Wochenende das erste Konzert: | |
| > eine performative Aufführung von Brahms Requiem auf der Plaza. | |
| Bild: "Tod, wo ist dein Stachel": Der Berliner Rundfunkchor probt unter dem Dir… | |
| HAMBURG taz | „Wie lieblich sind deine Wohnungen ...“, schallt es von | |
| Hamburgs Elbphilharmonie. Lieblich? Wohnungen? In der Elbphilharmonie? Das | |
| kann nicht sein, die ist doch noch gar nicht fertig. Stimmt, ist sie nicht, | |
| das wird erst 2015 etwas. Aber auch auf Baustellen kann man Schönes machen. | |
| Zum Beispiel Johannes Brahms’ Requiem aufführen – jenes Stück, dass der in | |
| Hamburg geborene Komponist 1868 schrieb und mit dem er den Durchbruch | |
| schaffte. Es ist keine Totenmesse im Wortsinn, sondern ein Trost-Oratorium | |
| für die Lebenden, die das Sterben ihrer Angehörigen verarbeiten sollen. Ein | |
| Erlöser namens Jesus kommt auch nicht vor. Es ist also eine interreligiöse | |
| Musik und für alle Menschen und Räume. Selbst für einen umstrittenen Ort | |
| wie die Elbphilharmonie-Baustelle, wo das Stück am Sonnabend das Hamburger | |
| Theaterfestival eröffnet. | |
| Dabei ist der eigentliche Konzertsaal noch gar nicht fertig – man erinnert | |
| sich, es gibt Streit um die Statik des Dachs. Dafür aber die Plaza, 38 | |
| Meter über der Elbe gelegen. Das ist jener zugige Raum zwischen dem | |
| Backstein-Speicher von 1963 und dem neuen Beton-Stahl-Glas-Aufsatz der | |
| Architekten Herzog und de Meuron. | |
| Die Plaza – das ist ein transitorischer Ort zwischen Himmel und Erde, | |
| zwischen einstigem Kakao-Speicher und elitärem Wohnungs-, Hotel- und | |
| Konzertsaal-Teil, und den kann man schon jetzt bespielen. Zwar nicht mit | |
| einem orchestralen Konzert, wohl aber mit einer performativen | |
| Chor-Inszenierung, bei denen die Sänger herumlaufen, schaukeln, miteinander | |
| rangeln. | |
| ## Wiese anstatt Bauschutt | |
| Und da eignet sich Brahms’ Requiem, das der Berliner Regisseur Jochen | |
| Sandig, Erfinder des dortigen Kulturorts „Radialsystem“, „Human Requiem“ | |
| nennt, perfekt. Denn das künftige Elbphilharmonie-Foyer wirkt wie ein | |
| Uterus mit seiner organisch geschwungenen, recht niedrigen Decke, die den | |
| Klang des Berliner Rundfunkchors samt Klavierbegleitung schon auf der Probe | |
| überraschend gut trägt. | |
| Anstelle von Bauschutt liegt jetzt Rollrasen auf dem nackten Betonboden, | |
| Schaukeln sind mit groben Stricken an die Decke montiert, ein paar | |
| Sandsäcke liegen herum. Sie sehen aus wie Leichensäcke. Und irgendwie kommt | |
| einem das Ganze wie eine Mischung aus Picknick-Wiese und Friedhof vor – ein | |
| Zwischenort, Metapher für die Ambivalenz des Lebens. Eine gar nicht | |
| abwegige: In manchen Kulturen picknicken die Menschen regelmäßig auf dem | |
| Friedhof, um mit ihren Toten zu feiern. | |
| In diesem ambivalenten, noch deutlich baustellenartigen Ambiente der Plaza | |
| also – nur ein paar Planen verhindern, dass einen die Elbwinde wegwehen –, | |
| da lungern die Sänger im Halbdunkel im Grase, und die Sopranistin schaukelt | |
| im Cinderella-Kleid. Sie singt irgendwas von Traurigkeit, die aber bald | |
| vorbei sein wird. | |
| Dann wird es langsam hell, Cinderella hält an und läuft zwischen den | |
| Sängern herum, animiert sie, sich trösten zu lassen und aufzustehen. Sie | |
| tun es. Dann klettert der Bariton hoch aufs verkleckste Baugerüst und singt | |
| von der letzten Posaune. Der Chor starrt mit weit aufgerissenen Augen und | |
| singt schrill vom Todeskampf. Die Sänger liefern sich kleine Kämpfchen und | |
| haben sichtlich Spaß daran. | |
| Aber Johannes Brahms will kein Lamento, er will trösten. Der Kampf endet, | |
| die Leute singen „Hölle, wo ist dein Sieg“ und formieren sich zu einem | |
| kompakten Zug in Richtung Irgendwas. Sind es Lebende? Auferstandene? Man | |
| weiß es nicht, aber das Bild erinnert an die um 1500 geschaffenen Gemälde | |
| von Hieronymus Bosch, auf denen Menschenmassen aus ihren Gräbern steigen. | |
| Es ist eine sehr archaische Veranstaltung, da oben auf der | |
| Elbphilharmonie-Plaza, deren Setting irgendwo zwischen Land Art und | |
| Performance, zwischen Trash-Ort und Baustelle changiert. Dabei reißt | |
| Regisseur Sandig nicht nur Genre-Barrieren ein, sondern auch die zum | |
| Publikum. | |
| Denn die Sänger werden auch bei der Aufführung am Wochenende auf den 6.500 | |
| Quadratmetern der Plaza frei umherlaufen, und das Publikum soll das auch. | |
| Für die 800 Zuschauer pro Aufführung wird es nämlich keine Sitzplätze | |
| geben. „Ich will das Requiem im Wortsinn unter die Menschen bringen“, sagt | |
| Sandig. „Deshalb nenne ich es ja auch ,Human requiem‘“. Man versteht – … | |
| freut sich, dass man für hier oben den warmen Herbstmantel angezogen hat. | |
| Und während man dasteht und lauscht, denkt man, eigentlich müsste man die | |
| Philharmonie gar nicht teuer zu Ende bauen, die Plaza Concertante | |
| funktioniert doch prima. „Nein, das ist ein temporärer Spielort“, | |
| protestiert Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter. | |
| „Die Plaza wird später nie mehr bespielbar sein.“ Und genau wegen dieses | |
| Provisoriums gefällt ihm die Performance. Er hat Sandigs Projekt von Anfang | |
| an unterstützt und fühlt sich auch nicht um das Erstaufführungsrecht in der | |
| Elbphilharmonie betrogen. „Ich habe da kein Profilierungsproblem“, sagt er. | |
| Und wenn an dem Konzerthaus schon monatelang nicht gebaut werde, dann könne | |
| da wenigstens Kunst stattfinden. | |
| Inzwischen haben einige Sänger die Schaukeln hochgebunden und warten auf | |
| neue Anweisungen. Eine kleine Diskussion entsteht, weil der Dirigent den | |
| Bariton nicht sieht und der Chor nicht den Dirigenten. Der Pianist ruft von | |
| hinten, ob man ihm ein Guckloch nach vorn freihalten könnte. | |
| Ja, kann man, und langsam wird diese Work-in-Progress-Probe zur Spiegelung | |
| der ganz konkreten Baustelle drumherum. Ton für Ton wird der | |
| Glas-Beton-Moloch „mit Kunst aufgeladen“, wie Nikolaus Besch es formuliert. | |
| Er leitet das schon vierte Hamburger Theaterfestival und hat sich diesen | |
| Eröffnungs-Coup ausgedacht. Denn er findet, über die Elbphilharmonie müsse | |
| man ja nicht immer streiten. Und den Konzern Hochtief, der in Hamburg wegen | |
| Baustillstands und Geldforderung in Verruf geriet, habe er als kooperativ | |
| erlebt. „Die waren gleich begeistert, haben die Plaza freigeräumt und vier | |
| Aufzüge fluchtsicher gemacht“, schwärmt Besch. | |
| Davor hatte er nämlich ein bisschen Angst, als er im Juni – recht | |
| kurzfristig – seine Idee präsentierte: dass Hochtief und Behörden nicht | |
| mitziehen würden. Und Intendant Lieben-Seutter sagt, er habe das Projekt | |
| genau deswegen für unrealistisch gehalten. Beide irrten. Alle waren | |
| begeistert, und sogar die Hamburger Behörden hätten das Projekt recht zügig | |
| genehmigt, sagt Besch. | |
| ## Image-Politur erwünscht | |
| Aber vielleicht ist das gar nicht so überraschend: Alle Beteiligten können | |
| eine Image-Politur für das Projekt, dessen öffentliche Kosten derzeit bei | |
| 323 Millionen liegen, gut gebrauchen. Und man muss zugeben, es | |
| funktioniert. Denn während der Chor dahinten singt „Wir haben hier keine | |
| bleibende Statt“ und die Sänger dabei suchend herumlaufen – und das alles | |
| in diesem höhlenartigen Raum –, denkt man: „Ja, das ist es. So ist diese | |
| Architektur gedacht.“ Und kraftvoller und sinnlicher kann die Musik im | |
| künftigen Konzertsaal auch nicht sein. | |
| 28 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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