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# taz.de -- Debatte Verfassungsschutz: Der Mann auf der Fähre
> Wegen der NSU-Morde wird der Verfassungsschutz proaktiv. Echt jetzt? Mehr
> als Pausenclownerie will einem dazu nicht einfallen.
Bild: Kein Gesicht, nur eine Idee – Demokratie und ihr proaktiver Verfassungs…
Im Morgengrauen, so kam es mir vor, klingelte mein Handy. Eine sonore
Stimme wollte wissen, ob ich für die Abschaffung des Verfassungsschutzes
sei. „Woher haben Sie überhaupt meine Nummer“, fragte ich den Anrufer. Der
schwieg – und schlagartig stand mir vor Augen, was ich am Abend auf der
Website des Amtes gelesen hatte: „Diese Website benutzt einen
Webanalysedienst, welche die Analyse der Benutzung der Website durch Sie
ermöglicht. Dabei wird Ihre IP-Adresse erfasst. Zweck der Erfassung ist es,
Ihre Nutzung der Website auszuwerten.“ Alles klar, dachte ich, und drehte
mich noch einmal um.
Irgendwie danach traf ich den Anrufer auf einer Fähre der Berliner Stern-
und Kreisschifffahrt. Immerhin trug der Mann trug weder Schlapphut noch
Trenchcoat. „Sehen Sie“, kam er gleich zur Sache, „wir sind natürlich ge…
unsere Abschaffung, aber ein radikaler Richtungswechsel tut not. Nicht nur
wegen der Pannen.“ Er steckte sich eine filterlose Zigarette an.
„Wir Jüngeren im Amt“, fuhr er fort, „begreifen den Verfassungsschutz
proaktiv.“ – „Proaktiv?“, fragte ich. „Wir denken“ – er ließ sei…
über das graue Wasser schweifen –, „es ist falsch, unsere Zielpersonen als
Kriminelle zu betrachten und nicht als metaphysisch Irregeleitete.“ –
„Metaphysisch?“, ich wiederholte seine Worte schon wieder. „Ja. Alle sagen
ja Demokratie, aber alle setzen dogmatisch ein höheres Prinzip drüber. Die
Islamisten den Propheten, die Marxisten den Klassenkampf, die
Rechtsradikalen verschwiemeltes Volkstum, und – das sind die harten Fälle –
CDU, SPD, aber auch Teile der Grünen und der Linken das Wachstum. Aber die
Demokratie …“, er machte eine Effektpause, „die Demokratie verträgt keine
große Idee über den Individuen. Das birgt immer totalitäre Gefahren.“
„Aber die europäische Wertegemeinschaft?“, warf ich ein. „Ist zu
schwammig“, wehrte mein Gesprächspartner ab. „Nein, ich bin für etwas sehr
Pragmatisches: Demokratie ist unbehinderte Ermittlung des Gemeinwohls in
einer Gruppe von Gleichen. Mehr Begründung braucht’s nicht.“ – „Aber f…
korrekte Mehrheiten gehen oft furchtbar daneben“, hielt ich ihm entgegen,
„ich sage nur Ermächtigungsgesetz, Berlusconi, Deregulierung, Murdoch.“ –
„Jaja“, sagte er, „solche Fehler schleichen sich ein, wenn die Demokratie
noch nicht voll entwickelt ist. Das heißt“, er sah mir in die Augen, seine
waren grün. „Wo die Bürger nicht voll entwickelt sind, ist es auch die
Demokratie nicht. Menschen, die Angst vor der Zukunft, vor dem Alter, um
ihre Wohnung, ihren Arbeitsplatz haben, die erschöpfen sich in der Sorge um
ihr krudes physisches Leben. Nur wer sein Leben in der Hand hat, kann
demokratischer Vollbürger sein, das haben wir doch von den Griechen
gelernt, oder?“
## Viele Revolutionen weiter
„Aber Sie müssen mir doch nicht erklären, dass die Demokratie
Ungleichheiten kompensieren muss“, unterbrach ich ihn. „Nein, falsch“. Er
wurde heftig, „ganz falsch. Genau andersherum. Ohne bezahlbare Wohnungen,
gleiche Medizin für alle, ohne Bildung, die jeden an die Grenze seiner
Fähigkeiten führt, vor allem ohne das allgemeine Recht auf eine Arbeit, von
der man ohne Almosen leben kann, sind wir immer noch im prädemokratischen
Zeitalter.“
Es bedürfe wohl mehrerer Revolution, gab ich zu bedenken, um das
durchzusetzen, was er da gerade als „Voraussetzung“ der Demokratie
definiert habe. Er lachte: „Sagen wir lieber, die Französische Revolution
ist noch lange nicht vollendet. Artikel 3 über die Gleichheit, das ist doch
über weite Strecken noch politische Poesie. Oder Artikel 1: Finden Sie
Leiharbeit menschenwürdig? Und vom dicksten Brocken habe ich noch gar nicht
gesprochen: Artikel 14. Da liegt noch jede Menge Arbeit für proaktiven
Verfassungsschutz.“ – „Stopp“, unterbrach ich ihn, „was sagt denn die
Leitung Ihrer Behörde dazu?“ – „Das“, grinste er, „ist delikat. Wir
Modernisierer sind noch eine Minderheit, deshalb sind wir einstweilen aufs
Outsourcen angewiesen. Wir sind an vielen Orten tätig, aber diese
Aktivitäten werden uns nicht zugerechnet.“
Endlich begriff ich: „Und deshalb …?“ Er legte mir die Hand auf den Arm:
„Genau. Deshalb würden wir Sie gern als informellen Mitarbeiter gewinnen.“
## Ekel oder Pausenclownerie?
Ich fragte ihn, woran er konkret gedacht habe. „Nun, aktuell wüssten wir
sehr gern, inwieweit die letzten Rede des SPD-Kandidaten einem Lernprozess
entspringt oder rein taktisch ist.“ Davon hänge schließlich ab, ob seine
Leute Steinbrücks Kampagne mit „lateral wirksamen Verstärkungen“
unterstützen oder, im negativen Falle, ihre Ressourcen anderweitig
einsetzen würden.
Als ich sagte, dafür sei ich ungeeignet, weil parteienfern, seufzte er:
„Schade. Aber wenn Personenprofile nicht Ihr Fach sind, könnten Sie ja
unserer theoretischen Abteilung zuarbeiten. Die untersucht gerade, wie man
Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und Innovationen auch
unter Bedingungen schrumpfenden Wachstums sichern kann.“ Das werde doch
schon in einer Bundestagsenquete untersucht, gab ich zu bedenken.
„Ja“, kam es zurück, „aber da sind unsere IMs nicht so richtig zum Zuge
gekommen gegen die Wachstumsmetaphysiker.“ Die Fähre legte an. „Sie müssen
sich nicht jetzt entscheiden“, sagte er noch. Dann war der Mann in der
Menge verschwunden. Und während ich noch nachdachte, klopfte es hart an
meiner Wohnungstür und eine sonore Stimme rief: „Wir brauchen Sie mal
eben.“ Es war der Klempner.
Aber am Ende dieser Kolumne frage ich mich, wie überhaupt seit einiger
Zeit, warum ich neuerdings Gedanken, die gar nicht radikal sind, sondern
meiner tiefen Überzeugung entstammen, warum ich Einsichten über das, was
ich oder Sie tun sollten, nur noch als Märchen oder Traum oder Posse
aufschreiben mag. Im Irrealis also. Ist das Resignation? Ekel vor bloß
normativen Sätzen, auf die nichts folgt? Verrat am Erbe? Die realistische
Einsicht, dass die Partie gelaufen ist? Oder vielleicht – auch das wäre ja
möglich – eine Pausenclownerie vor der nächsten großen Nummer.
4 Oct 2012
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
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