# taz.de -- Jubel-Arie: Ab in die Falle! | |
> Mahagonny von Brecht und Weill ist wie ein Netz, das für die eßbaren | |
> Vögel gestellt wird: In Benedikt von Peters Inszenierung verfängt sich, | |
> wer nicht schon tot ist. | |
Bild: Nadja Stefanoff duldet als Leokadja Begbick keinen Widerspruch. | |
Zersprengt ist das Publikum, aufs ganze Haus verwirbelt und zerstreut. | |
Eilig verlagert sich die Szene, manche jagen ihr nach. Andere haben sich, | |
aus alter Gewohnheit, in den Zuschauersaal verirrt, wo sie nun der Schock | |
trifft: Es ist alles ruiniert. [1][Das Bremer Goethetheater] – gibt es | |
nicht mehr. Ja schon, die Bühne vorne steht noch. Und da spielen, in | |
Glitzerkostümen wie eine Bordkapelle, die Philharmoniker drauf. | |
Aber sie geigen in ein leeres Haus, von Bühnenbildnerin Katrin Wittig | |
entkernt und wie für einen Abriss vorbereitet: alle Sitze weg bis auf ein | |
paar Klappsessel-Kleingruppen, diverse glitzernde Diskokugeln, eine öde | |
Gegend – die Wüste. | |
„Gut, dann bleiben wir hier“, singt mit schneidendem Sopran Nadja Stefanoff | |
alias Leokadia Begbick, devot umschwänzelt vom Totschläger | |
Dreieinigkeitsmoses und Fatty, dem Prokuristen. Hier will sie die Stadt | |
gründen mit Namen Mahagonny. Sie singt das irgendwo im Haus, und überall im | |
Haus von großen Leinwänden herab. Im Close-up funkeln ihre Augen. Diese | |
Stadt wird eine Falle sein, „wie ein Netz, / Das für die eßbaren Vögel | |
gestellt wird“. Eine Falle, um Leute darin zu fangen, denn „sie geben das | |
Gold her!“ – das ist ihr Plan. | |
So beginnt „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, eine Oper gegen die | |
Oper von Kurt Weill und Bert Brecht: Sie erzählt die Geschichte eines in | |
Alaska zu Gold gekommenen Quartetts von Holzfällern, Paul Ackermann, | |
Heinrich, Jakob und Joe, genannt Alaskawolf-Joe, die sich im Amüsierapparat | |
der Netzestadt verfangen. Und so beginnt Benedikt von Peters erste Arbeit | |
als Bremer Hausregisseur: Sie irritiert, raubt den Atem – und inszeniert | |
nicht zuletzt das Publikum selbst. Mit Brecht, ganz in Brechts Sinne – und | |
komplett gegen ihn. | |
So hatte Brecht in seinen „Anmerkungen zur Oper“ befunden, die | |
souverän-monarchische Haltung der Zuschauer sei derer selbst unwürdig, und | |
gefragt: „Ist es möglich, dass sie sie ändern?“ Es ist. Aber anders, als | |
sich Brecht das dachte: „Der Zuschauer steht gegenüber, studiert“, so | |
wollte er’s und riet, auf die Vernunft zu setzen. Armer BB! Wahrscheinlich | |
hat er sich die Rationalisten-Pose sogar selbst geglaubt, ganz anders als | |
von Peter. Der setzt in Bremen stark aufs Gefühl. Und die Zuschauer stehen | |
mittendrin. | |
Schon in [2][Hannover] hatte er Ähnliches gemacht, vor zwei Jahren, mit | |
Luigi Nonos selten gespielter „Intolleranza 1960“. Da war das Publikum im | |
Bühnenraum gleichsam eingesperrt, hinterm eisernen Vorhang. Doch eine | |
Reprise ist das nicht: Während in Hannover das Ziel war, aus dem Publikum | |
eine Masse des Mitleidens zu formen, geht’s in „Mahagonny“ darum, es zu | |
aktivieren. | |
Die Zuschauer werden Teil des Amüsierbetriebs, kriegen Kostüme über, | |
flattern rastlos durchs Theater, um schließlich auf dem geschlossenen | |
Deckel des Orchestergrabens zusammengetrieben zu werden. Dort überstehen | |
sie, kauernd auf Notsitzen, die Nacht des Grauens, in der sich der Hurrikan | |
unaufhaltsam der Stadt nähert. Sie singen sogar mit: „Vor allem aber achtet | |
scharf, dass man hier alles dürfen darf“, steht auf Flugblättern, die ins | |
Volk wirbeln. Und der Chor tappt betroffen durch die Reihen. | |
Grandios, wie Generalmusikdirektor Markus Poschner in diesem geplanten | |
Chaos den Überblick behält, grandios, wie er alles in perfekte Synchronie | |
bringt, Orchester und disparate Soli und beide Chöre: Per Monitor dirigiert | |
er das gesamte Theater, und er erreicht die SängerInnen auch dann noch, | |
wenn sie gerade – alle großen Unternehmungen haben ihre Krisen –, zu dritt | |
im Herrenklo eingeklemmt singen, „ach, dieses Mahagonny ist [3][kein | |
Geschäft] geworden“. | |
Das ist ein angemessen vulgärer Witz: Oper ist sonst eine entrückte | |
Kunstform. Sie steht im Ruch des Elitären. Hier wahrt sie nicht mal die | |
Schranken des Anstands und rückt auf die Pelle: Christian-Andreas Engelhard | |
ist als Jakob Schmidt das erste Opfer der Netzestadt. Er liegt mitten im | |
Raum, lässt sich bewirten und frisst sich tot. „Alles ist nur halb“, singt | |
er, ermattend wie ein Dudelsack, dessen Luft schwindet, „ich äße mich gern | |
selber“, einige ermuntern ihn sogar, „Brüder gebt mir noch …“, röchel… | |
in einem Chopin-Pastiche. | |
Wenn Karsten Küsters als massiger Dreieinigkeitsmoses im enthemmten | |
Boxkampf dem am Boden liegenden Alaskawolf-Joe eine Flasche, acht, neun, | |
zehnmal auf den Kopf schmettert, spritzt der Schweiß schon mal in fremde | |
Gesichter – und man sorgt sich, ob Christoph Heinrichs warmer Bass jemals | |
noch zu hören sein wird. Als Paul Ackermann, der alles auf seinen alten | |
Kumpel Joe gesetzt und damit alles verloren hat, wegen Zechprellerei zu | |
Tode verurteilt wird, fragen die Choristen: „Haben Sie vielleicht etwas | |
Geld?“ Jenny (extra ordinär: Marysol Schalit), seine gekaufte Braut, weist | |
das Ansinnen zurück. Aber ein guter Mensch zückt doch echt sein | |
Portemonnaie. | |
Ja, selbst die Oper kann zur materiellen Gewalt werden: Sobald sie die | |
Leute ergreift, weil sie radikal geworden ist. Und die Wurzel für den | |
Menschen – hieß das nicht so bei Hegel oder [4][Marx?] – ist der Mensch | |
selbst, Paul Ackermann. Nur, dessen späte Einsicht, dass alles nichtig ist, | |
was er für Geld bekommen kann, fruchtet nichts. Sie bereitet nichts vor, | |
sie hilft niemandem und führt zu nichts, außer zu seiner Hinrichtung, die | |
Weill mit einer blasphemischen Bach-Paraphrase begleitet. Die mündet dann | |
in eine kühne Apotheose exakt jener Verhältnisse, in denen der Mensch ein | |
geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist. | |
Und so schmettern alle gemeinsam, der Chor, die SolistInnen, der | |
Werktätigen-Chor, unisono die skandalöse Absage an jede Idee der | |
Solidarität: „Können uns und euch und niemand helfen!“ Das ist die plakat… | |
ironische Schlusszeile der Oper, messerscharf rhythmisiert hat Weill sie, | |
vorwärts drängend, kein Grundton nirgends: Das Ende ist Impuls aus der Oper | |
heraus, Appell, endlich diese alte Ordnung hinwegzufegen. Denn auch du, | |
Genosse Operngänger, bist revolutionäres Subjekt! Und ja, am Ende reißt es | |
die Premierenanrechtler, Presse, Ehrengäste und Bürgermeisterin aus ihren | |
Sitzen, dass deren Bügelfüßchen wegkippen: Hurra! Es lebe – die Oper. | |
Was denn sonst: Schon bei der Uraufführung 1930 hatte „Mahagonny“ eine | |
Revolution nicht auslösen können. Die im Stück eingeschlossene Reflexion | |
der Kunstform kann ihr per se nicht gefährlich werden. Und Brechts Gedanken | |
sind noch unsortiert: Da wird ein wenig am Begriff des Kulinarismus | |
rumgeschraubt, erst kritisch, dann wird das eigene Stück als kulinarisch | |
und als Spaß erkannt, der „gesellschaftsändernde Funktion“ habe, weil er | |
eben „das Kulinarische zur Diskussion“ stelle – um schließlich durch | |
Überarbeitungen „das Lehrhafte auf Kosten des Kulinarischen immer stärker | |
zu betonen“, was nicht geschieht. | |
Andererseits wird eine Gleichrangigkeit von Musik und Text in Aussicht | |
gestellt – und doch ist Weills „Mahagonny“-Komposition die wohl | |
unterwürfigste Opernmusik aller Zeiten: Mit ihr das Publikum im Wortsinn zu | |
zerstreuen, entspricht sehr genau Weills Art zu komponieren. Die Partitur | |
ist witzig, ist blasphemisch und peitscht auf – aber doch nur, wie’s dem | |
Textbuch gefällt. | |
Groß also sind die Brüche der Theorie, ihre Argumente und Thesen wackeln | |
stärker als jedes Klapphöckerchen. Das macht selbstredend ihren Reiz aus. | |
Denn, Gegenprobe: Wer „Mahagonny“ wie Andreas Homoki in der [5][Komischen | |
Oper Berlin] macht, also ganz im Stile der 1920er auf die Bühne bringt, der | |
wird in fader Treue untergehen. | |
Von Peter dagegen sucht im vom Autor selbst Undurchdrungenen, im Unfertigen | |
der Brechtschen Opernsoziologie. Er bewahrt die Oper dadurch, zur bloßen | |
Oper zu erstarren, also zum Werk und Klassiker aus Gips. Er führt sie durch | |
als, wie er sagt, „Gesellschaftsversuch in actu“. Das erlaubt, im Stück die | |
Ahnung eines „Schulterschlusses zwischen den Darstellern und den | |
Zuschauern“ zu entdecken, das ermöglicht, mit ihm „ein WIR, das sich über | |
seine Hilflosigkeit in Bezug auf die Werte des Menschen verständigt“, zu | |
erproben. | |
Hilflosigkeit? Bei ihm? So etwas hätte Brecht wohl niemals eingeräumt. Und | |
doch: Sie aus dem Text zu lesen, ist möglich – seit dem Zerbrechen der | |
Ideologie, die sein Sinn war. An dessen Stelle ins Zentrum dieser Oper | |
getreten ist das Entkernen und mutwillige Ruinieren des Überbaus selbst, | |
das Fehlen aller Richtung: Und diese Leere ist die eigentümliche, die | |
schockierende, ja aufwühlende Erfahrung der grandios zielstrebigen | |
Inszenierung der Orientierungslosigkeit. Es bleibt, sie zu bejubeln, oder | |
zu verzweifeln. Entrinnen können nur die Toten. | |
## nächste Aufführungen: 20. 10., 19.30 Uhr; 4. 11., 18 Uhr; 29. 11., 19.30 | |
Uhr | |
9 Oct 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/aufstieg-und-fall-der-stadt-mah… | |
[2] http://www.staatstheater-hannover.de/oper/index.php?m=31&f=11_kritiken&… | |
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Gesch%C3%A4ftsgrundlage | |
[4] http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm | |
[5] http://www.komische-oper-berlin.de/spielplan/aufstieg-und-fall-der-stadt-ma… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
Benno Schirrmeister | |
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Komische Oper Berlin | |
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