# taz.de -- Alternative Szene in Belgrad: Schluss mit Turbofolk | |
> Politisch bewegt sich die serbische Hauptstadt Belgrad in die Neunziger | |
> zurück. Doch es entwickeln sich auch alternative Strukturen. | |
Bild: Zurück in die Vergangenheit: serbische Volksmusiker vor Hetzparole. | |
BELGRAD taz | Obwohl die Gay Pride schon in der vergangenen Woche verboten | |
wurde, kommt in Belgrad dieser Tage niemand an den Hassparolen vorbei. | |
Statt der LGBT-Community liefen Mitglieder der rechtsradikalen Bewegung | |
Dveri tagelang durch die Straßen, um vor der „globalen Verschwulung“ zu | |
warnen. „Tod den Päderasten“ steht in mannshohen kyrillischen Lettern an | |
der Mauer des Studenski Trg nahe der Philosophischen Fakultät. Trotz der | |
Lynchstimmung hatten einige AktivistInnen dorthin zum queeren Frühstück | |
geladen. | |
Unterstützung gab es für sie aber kaum – selbst liberale Belgrader stehen | |
hinter dem Verbot der Gay Pride. Aus Angst. Tagelang wurde darüber in den | |
Cafés diskutiert. Die junge Journalistin Jelena erzählt, wie 2010, als | |
Klerikale und Hooligans die Pride überfielen, unter ihrem Balkon die Autos | |
brannten und der Staat kapitulierte. | |
JedeR in Belgrad kennt diese Geschichten. Die Hooligans und radikalen | |
Rechten sind schlicht besser ausgerüstet und organisiert als die Polizei. | |
Und sie genießen die Unterstützung der serbisch-orthodoxen Kirche. | |
Überhaupt scheint die lange Zeit so weltgewandte serbische Hauptstadt | |
politisch auf dem Weg in die Vergangenheit. Präsident Tomislav Nikolic war | |
die rechte Hand des in Den Haag angeklagten serbischen Radikalen Vojislav | |
Seselj, Ministerpräsident Ivica Dacic der zweite Mann hinter dem gestürzten | |
Präsidenten Slobodan Milosevic. Und doch tut sich viel in Belgrad. | |
Die Stadt wird wieder urban, auf den Straßen spricht man Englisch, | |
ungezählt sind die internationalen Festivals und Kongresse. Kurz: Kulturell | |
ist Belgrad immer mehr die lebendige Metropole, die es ab den Sechzigern | |
für zwanzig Jahre war. In der jugoslawischen Hauptstadt hatte sich eine | |
ganz erstaunliche Szene der elektronischen Musik, Pop-Art, Jazz und | |
Rockmusik etabliert, die aus der kulturellen Wüste der sozialistischen | |
Länder herausstach. | |
## Soundtrack der Isolation | |
Mit den nationalistischen Kriegen und der organisierten Kriminalität | |
änderte sich das. Es entstand der unerträglich scheppernde Soundtrack der | |
Isolation: Turbofolk. Diese Musik der Vorort-Apparatschicks, der Dizelasi | |
(mit Waffen und Marlboros ausstaffierte „Diesel-Jungs“) und Sponzoruse | |
(junge Frauen, die sich aushalten lassen) hatte jahrelang das | |
Großstadtleben gelähmt. Dass nun die alternative Musik und offene | |
Kunstkonzepte die Stadt zurückerobern, kommt einer Befreiung gleich. Es | |
gibt viele Jazz- und Kellerclubs, in denen täglich Bands spielen, | |
Proberäume in alten Industriekomplexen stehen immer offen. Turbofolk indes | |
hört man nur noch von den Hausbooten an der Save. | |
Hinter dem Dom Sindikata und am Stadtplatzes Terazija sitzen hingegen Nacht | |
für Nacht hunderte junge Leute auf dem zersplitterten Beton. Aus den | |
Kellerclubs schallt Gitarrenpop. In die dunklen Häuserschluchten werden | |
Kurzfilme projiziert. Wer hier kein Geld hat, bleibt auf der Straße oder in | |
den Parks. Bei einem Durchschnittslohn von unter 300 Euro ist es kaum | |
möglich, Bars zu besuchen oder sich eigene Räume – Büros, Ateliers oder nur | |
eine Wohnung – zu leisten. | |
Immer mehr Initiativen schaffen darum Freiräume abseits der Institutionen. | |
Unweit der Pancevacki Most liegt hinter dichtem Buschwerk das seit den | |
Neunzigern verlassene Gelände von Inex Film. Hier entsteht ein | |
subkulturelles Zentrum mit Ateliers und einem Infoladen. Seit zwei Jahren | |
erneuert ein selbstorganisiertes Kollektiv das baufällige Gebäude. | |
Ein einmaliges Projekt, denn Besetzungen sind trotz Wohnungsnot nicht | |
üblich. In einigen Parzellen wohnen bereits KünstlerInnen. Alle Wände sind | |
bemalt, zwischen Schrott stehen Skulpturen. Im Konzertraum schläft ein | |
Backpacker aus Australien. „Bis vor kurzem war das eine Ruine“, sagt eine | |
der Künstlerinnen. Mittlerweile sind Stromkabel verlegt, Fenster und Türen | |
eingebaut. | |
Der neue Besitzer lässt dem Kollektiv freie Hand. Klar, dass die | |
Zwischennutzung ihm nutzt, denn der Baugrund ist teuer. Trotzdem hofft das | |
Kollektiv, bleiben zu können. Mittlerweile schließlich haben sie viele | |
UnterstützerInnen. Und wer weiß, vielleicht sind es genau diese neuen | |
Strukturen und Netzwerke, bisher den Rechten vorbehalten, die im kommenden | |
Jahr die Gay Pride durchzusetzen helfen. | |
11 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
Sonja Vogel | |
## TAGS | |
Ex-Jugoslawien | |
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