# taz.de -- Syphilisepidemie in der Sexfilmbranche: Kondompflicht im Pornotal | |
> Das Präservativ – Bedrohung für die Erektion und für das Geschäft. Im | |
> November wird in Los Angeles abgestimmt: Sollen Präservative beim | |
> Sexfilmdreh zur Pflicht werden? | |
Bild: Ein geeigneter Ort für Kondome: Sexfilmerei in Los Angeles. | |
SAN FERNANDO VALLEY taz | Vielleicht muss man das auch als eine Warnung | |
Gottes verstehen, sagt Mr. Marcus, der Pornostar. Vielleicht wollte er ihn | |
direkt an den Abgrund stellen. Damit er hinuntersehen konnte – ohne zu | |
fallen. Vorerst. | |
Syphilis. Nicht HIV. | |
Marcus J. Spencer, 42 Jahre alt, 18 davon im Geschäft, sitzt in seinem | |
Büro, das eine Garage in einem Industriegebiet ist, und im Augenblick kann | |
er nur abwarten, ob es das jetzt war. Spencer, genannt Mr. Marcus, ist das | |
Zentrum der Syphilisepidemie, die die Pornobranche im kalifornischen San | |
Fernando Valley mehrere Wochen vom Drehen abgehalten hat. | |
Der Syphilisausbruch hätte für die Pornofirmen zu keiner ungünstigeren Zeit | |
kommen können. Im November wird im Bezirk Los Angeles, in dem das San | |
Fernando Valley liegt, über eine Kondompflicht für Pornoproduktionen | |
abgestimmt. Die Aids Healthcare Foundation, eine der weltweit größten | |
Organisationen zur Aids-Gesundheitsvorsorge, hat ihren Hauptsitz nur wenige | |
Kilometer von jenem Tal entfernt, das diese Welt mit Pornografie versorgt, | |
und sie will Kondome nicht nur vorschreiben lassen, sondern mit | |
Kontrolleuren des Gesundheitsamtes überprüfen, ob sie eingesetzt werden. | |
Die Verbände der Pornobranche haben eine Gegenkampagne gestartet. Die | |
Organisation, die die Pornofirmen vertritt, heißt Free Speech Coalition. | |
Koalition für die Meinungsfreiheit. Ein Verfassungsrecht. Wie oft, wenn in | |
den USA etwas verteidigt werden soll, was nicht allzu viel Sinn hat, | |
behaupten die Verteidiger, es stehe etwas Großes auf dem Spiel: die | |
Freiheit. | |
## In Quarantäne | |
Das wichtigste Argument der Pornobranche gegen den Kondomzwang ist ihr | |
Testsystem. Jede Darstellerin, jeder Darsteller werde regelmäßig auf | |
Geschlechtskrankheiten getestet, alle 28 Tage. „Ein härteres System werden | |
Sie nirgends auf der Welt finden“, sagt der Sprecher der Kampagne. | |
„Wir gelten als dreckig“, sagt die Darstellerin London Keyes. „Und die da | |
draußen als sauber. Aber eigentlich sind wir in Quarantäne. Wir werden | |
ständig getestet.“ | |
„Wir glauben alle an dieses Testsystem“, sagt Marcus J. Spencer, der Mann, | |
der gerade gezeigt hat, wie wenig es wert sein kann. | |
Er sitzt auf dem braunen Sofa in seiner Bürogarage, hinter ihm eine | |
Hantelbank. An seinen breiten Armen winden sich Tätowierungen entlang. In | |
einem Metallregal liegt sein Penis als Dildo, originalverpackt. Mr. Marcus | |
ist einer der wenigen männlichen Stars, die diese Branche hat. Vielleicht | |
muss man auch schon sagen: gewesen. | |
Es lief gerade wieder gut, Ende Juli. Fast jeden Tag rief jemand an und | |
fragte, ob er drehen könne. Er klappte sein MacBook zu, fuhr in ein Studio, | |
in ein Haus, ein paar Meilen weiter. Die Frauen waren schon geschminkt. Er | |
fickte sie. Zwei Stunden. Er fuhr nach Hause. 700, 800 Dollar. Er klappte | |
sein MacBook wieder auf und kümmerte sich um seine Website und um die | |
Darstellerinnen, die er managen wollte. Er würde ja nicht ewig drehen | |
können. | |
Alle 30 Tage ging er in den Laden, wo sie ihn auf HIV, Tripper, Chlamydien | |
und Syphilis testeten. Den Test zeigte er beim Drehen vor. | |
Er ließ seine Ergebnisse nicht in die Datenbank eintragen, in der nach | |
Angabe der Branchenverbände die 1.200 anderen Darstellerinnen und | |
Darsteller registriert sind. Er unterlief dieses System, an das alle | |
glaubten, weil er wusste, dass es sich gegen ihn wenden könnte. Im | |
Ernstfall. | |
Er konnte Darren James nicht vergessen. | |
„Ich habe erlebt, wie sie ihn behandelt haben“, sagt Marcus J. Spencer. | |
Darren James, 48 Jahre alt, ist das Gesicht, das für die Kondompflicht | |
wirbt. Er ist in vielem das Gegenteil von Marcus J. Spencer. Er ist nicht | |
besonders hübsch, ziemlich dürr, er geht ein wenig gebeugt, als müsste er | |
sich ständig vor etwas wegducken. | |
Darren James ist HIV-positiv. Er hatte sich bei einem Dreh in Brasilien | |
angesteckt. Mehrere Darstellerinnen haben sich dann 2004 bei ihm infiziert. | |
Es war der meistbeachtete Drehstopp, den das San Fernando Valley je erlebt | |
hatte. | |
Reporter belagerten sein Haus. James floh Richtung Mexiko, er schluckte so | |
viele Tabletten, dass er hätte sterben müssen, aber die Ärzte retteten ihm | |
das Leben. James beschloss, mit diesem Leben etwas anzufangen. Er würde | |
über die Gesundheitsgefahren der Pornobranche aufklären. | |
The Industry, sagt Darren James. The Industry, sagt Marcus J. Spencer. Es | |
klingt wie eine dunkle Macht. | |
Im Grunde geht es nur um Erektionen und um Geld, sagt James. | |
Am Set ist der Penis des Darstellers der Mittelpunkt. Steht er nicht, ist | |
die Szene hinüber. Kondome sind eine Bedrohung für die Erektion. Für das | |
Geschäft. | |
Darren James war in der Navy und wollte zur Polizei, aber sie nahmen ihn | |
nicht. Dann ging er eines Tages, Ende der Neunziger, zu einem „Cattle | |
Call“, einer Fleischbeschau. Nackte Männer und Frauen standen in einer | |
Reihe, und Pornoproduzenten begutachteten Penisse und Brüste. | |
Darren James’ Penis war groß genug. Er stand, wenn er musste. Wenn einer | |
ausfiel, sprang James ein und kassierte dessen Gage. Er fickte in | |
Tschechien, er fickte in Brasilien und manchmal fickte er neue | |
Darstellerinnen vor ihrem ersten Analdreh ein, sagt er. Er hatte so viel | |
Sex mit schönen Frauen wie in seinem ganzen Leben nicht. Alle 30 Tage ging | |
James zum Blutabnehmen. | |
30 Tage sind eine lange Zeit. Man kann HIV in sich haben, ohne dass es | |
nachweisbar ist. Darren James war HIV-positiv, als sein Test noch etwas | |
anderes anzeigte. | |
Er drehte weiter. Bis das HIV auf dem Testbogen erschien. | |
Als er im Frühjahr 2004 davon erfuhr, hatte auch schon CNN seinen Namen. Er | |
sei jetzt der Mann, sagt James, der die Seuche in die Branche brachte. | |
Jedes Mal, wenn eine neue Epidemie ausbricht, ist sein Bild in den | |
Zeitungen zu sehen. | |
„Wir haben alle einfach nur einen Job gemacht“, sagt Darren James mit | |
dieser ruhigen Stimme von einem, der seit Jahren etwas erklären muss. | |
Vor einem Jahr hat er einen neuen Job gefunden: Er klärt auf den Straßen | |
von Los Angeles über HIV auf, für die Aids Health Foundation. Jene | |
Organisation, der er gerade sein Gesicht leiht, um für die Kondompflicht zu | |
werben. | |
Die Pornobranche lässt streuen, er tue es nur fürs Geld. Er sei geschmiert. | |
The Industry. | |
Als am 12. Juli auf dem Testzettel von Marcus J. Spencer steht, dass der | |
Syphiliserreger bei ihm nachgewiesen worden ist, weiß er nicht, was er tun | |
soll. | |
Bisher ging es immer nur um HIV, Tripper und Chlamydien. Tripper und | |
Chlamydien hatten alle immer mal wieder, aber niemand sprach darüber. HIV | |
hatte niemand, hoffte man, aber auch darüber sprach niemand. Spencer ging | |
zu seinem Hausarzt, der verschrieb ihm ein Antibiotikum und sagte, dass in | |
zehn Tagen alles in Ordnung sein sollte. | |
Die Produzenten riefen an. Mr. Marcus sagte: Ich kann nicht. Er habe dabei | |
jedes Mal Geldscheine davonfliegen sehen, sagt er. | |
## Wo ist die Lücke im System? | |
Marcus J. Spencer hat eine Frau und zwei Kinder, 10 und 16 Jahre alt. Er | |
redet ungern darüber, ob er mit ihnen darüber spricht, was er beruflich | |
macht. Es klingt aber so wie: eher nicht. | |
Weil Mr. Marcus nicht in der zentralen Pornodatenbank geführt wird, weiß | |
keiner von seinen Bakterien. Als nach zehn Tagen immer noch Antikörper zu | |
sehen sind, fährt er trotzdem zum Dreh. Das Syphilisergebnis steht unten | |
auf dem Bogen, er knickt es beim Vorzeigen weg. | |
Viele sagen jetzt, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind. Selbst das | |
beste System kann mit krimineller Energie überlistet werden, soll das | |
heißen. Aber wo hat sich Spencer infiziert? Wo sind die anderen Lücken im | |
System? | |
Er sagt, er weiß es nicht. Es gibt Gerüchte. Eine Französin, die kurz zum | |
Drehen in Kalifornien war. Mit der er beruflich und privat schlief. Die mit | |
vielen schlief, mit Ungetesteten. Die auch „Escort“ machte. | |
Bisher ist niemand bekannt, den Mr. Marcus infiziert hätte. Von acht | |
anderen Fällen ist die Rede, keiner wird mit ihm in Verbindung gebracht. | |
Trotzdem ist er jetzt der Schuldige. Er ist die Epidemie. | |
Sie hätten damals, sagt Darren James, wenn aus einer Vagina etwas | |
herausfloss, Antibiotika genommen, vorbeugend. Statt darüber zu sprechen. | |
Anfang November wird abgestimmt. Eine Milliarde Dollar könne der Region | |
verloren gehen, droht die Industry. | |
## Gang und Geheimbund | |
Wenn Steven Hirsch von der Industry spricht, klingt es wie eine Mischung | |
aus Gang und Geheimbund. Irgendwie verschwörerisch. Hirsch ist der Chef von | |
Vivid Entertainment, einer der größten Pornofirmen der USA. | |
Er arbeitet an einem glänzenden Schreibtisch aus dunklem Holz an einer | |
befahrenen Straße in Hollywood. In der Parkgarage steht sein Mercedes mit | |
acht Zylindern. Die Aids Foundation, sagt Steven Hirsch, habe von der | |
Industry keine Ahnung. Seine Stimme schnarrt zügig vorbei wie die Autos. | |
Warum soll der Staat eingreifen, wenn Menschen einvernehmlich vor der | |
Kamera Sex haben? Eine Kondompflicht verzerre den Wettbewerb. In Europa, in | |
Nevada, in Florida dürfe weiter ohne gedreht werden. | |
Die Darsteller wollen keine Kondome, sagt Steven Hirsch. Kondompornos | |
verkaufen sich nicht. Selbst die Darstellerinnen wollten oft keine Kondome, | |
weil sie wehtun können. | |
Aber gibt es nicht einen Gruppendruck, der dafür sorgt, dass selbst die, | |
die Kondome wollten, es nicht sagen können, weil die Industry sie sonst | |
verstößt? | |
Es gebe mehr Darstellerinnen als gebraucht würden, sagt Steven Hirsch. „Wir | |
zwingen niemanden. Aber du bist hier eben im Adult Business, im | |
Erwachsenengeschäft. It is what it is.“ | |
Jetzt sitzt Marcus J. Spencer in seiner Garage, draußen drückt die Hitze | |
aufs Tal, und er wartet, was passieren wird. Er hofft, dass ihn jemand | |
engagiert. Er überlegt, ob er Regisseur werden soll. Er hofft, dass die | |
Leute merken: „Wenn das Mr. Marcus passieren kann, kann es jedem | |
passieren.“ | |
Darren James hat neulich mit ihm telefoniert, sie kennen sich, von früher. | |
Ihre Situation ist jetzt ganz ähnlich. Sie sollen die Schuldigen sein. | |
„Die Geschlechtskrankheit ist das Stiefkind dieser Branche“, sagt Spencer. | |
„Wir wollen nicht zugeben, dass sie zum Sex dazugehört.“ | |
Marcus J. Spencer sagt, dass er gegen die Kondompflicht ist. Trotz allem. | |
22 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Johannes Gernert | |
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