# taz.de -- Neues Buch von Florian Illies: Man umarmt sich herzlich | |
> Florian Illies tickert in „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ kurze | |
> Episoden aus dem Leben von Benn, Rilke, Kafka und anderen. | |
Bild: Wo Stalin und Hitler 1913 zusammen spazieren gingen: Im Park von Schloss … | |
September 1913: Hugo von Hofmannsthal liegt in seinem Hotelbett im Vier | |
Jahreszeiten in München und wacht aus einem Albtraum auf. Die Sonne scheint | |
bereits grell ins Zimmer. Er geht benommen in den Englischen Garten, um | |
sich von seinem Alb zu erholen. Es sind erst wenige Leute unterwegs. Warm | |
scheint die Herbstsonne über die Bäume. | |
Als Hofmannsthal die kleine Brücke des Eisbachs überquert, kommt ihm völlig | |
überraschend Sigmund Freud entgegen. Man kennt sich. Man umarmt sich | |
herzlich. Als dann auch noch Rainer Maria Rilke dazustößt, der sich hier | |
mit Freud zum Spaziergang verabredet hat, „ist Hofmannsthal endgültig, als | |
träume er noch. Aber es ist, wie alles in diesem besonderen Jahr, wahr.“ | |
Über diese zufällige Begegnung berichtet Florian Illies in seinem neuen | |
Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, | |
dass überall versucht wird, aus den klassischen, kausalen Zusammenhängen | |
auszubrechen und Geschichte anders zu erzählen: Ausgehend von Hans-Ulrich | |
Gumbrechts faszinierendem Buch „1926“, das 2001 erschien und inzwischen als | |
Begründungswerk dieser Form des synchronistischen Erzählens gilt, wird dem | |
Querschnitt eine andere, neue Erkenntnismöglichkeit zuerkannt. | |
„1812“, Adam Zamoyskis Buch über Napoleons Russlandfeldzug, steht seit | |
Wochen in den Bestsellerlisten, das deutsche Literaturarchiv in Marbach | |
widmete sich in diesem Sommer dem Jahr 1912, und in deutschen Museen werden | |
große Ausstellungen über die Jahre „1913“ und „1914“ folgen. | |
## Geschichtsschreibung ohne Geschichtslogik | |
Illies treibt nun diese Form einer Geschichtsschreibung ohne | |
Geschichtslogik, also ohne die Vereinnahmungen der Nachwelt und die | |
üblichen Entwicklungsprognosen, auf die Spitze: Er widmet sich 1913, | |
ebenjenem Jahr, das wir als „Vorboten“ zu sehen gelernt haben. Aber wie | |
Gumbrecht geht es Illies stattdessen um die „Illusion der direkten | |
Vergangenheitserfahrung“. | |
Und bei ihm wird, nicht nur weil der Stil das Präsens ist, die | |
Vergangenheit fast zu einer Gegenwartserfahrung. Illies erzählt das Jahr | |
anhand von Hunderten von kleinen Geschichten, Anekdoten, eine Art | |
systematische Anwendung des Alexander-Kluge-Prinzips der Wiederbelebung der | |
Geschichte aus den Tiefen biografischer Erfahrungen. Auch wem jede Form der | |
biografiegeschichtlichen Deutung von Kunstwerken widerstrebt, wird in den | |
Geschichten, die Illies erzählt, plausible Argumente dafür finden, warum | |
Freud ausgerechnet 1913 über den „Vatermord“ schreiben musste und Ernst | |
Ludwig Kirchner in Berlin ganz anders malte als noch ein paar Monate zuvor | |
in Dresden. | |
„1913“ ist unterteilt in die zwölf Monate. Kurze Episoden aus dem 1913er | |
Leben von Benn, Rilke, Kafka, Else Lasker-Schüler, den Manns, Freud, | |
Strawinsky, Erzherzog Franz Ferdinand, Brecht und etlichen mehr werden | |
zwischen Berlin, Wien, Paris und München bis hinüber nach New York hin und | |
her getickert. Ein besonderes literarisches Kunststück des Autors besteht | |
dabei darin, die feinen und weniger feinen Bande dieser Avantgarde zu einem | |
großen und dichten Beziehungsnetz zu verweben. | |
Eigentlich ist dieses Netz schon miteinander verwoben, aber Florian Illies | |
zeigt zum ersten Mal das ganze Netz dieser Geniespinne, die da alles andere | |
als regungslos am Anfang des 20. Jahrhunderts hockt. Wie unerhört leicht | |
diese Verknüpfungen und Zusammenfügungen bei Illies gespielt werden: Jeder | |
Satz sitzt, wie Wort für Wort hundertfach ab- und nachgewogen, bis alles | |
ganz wundersam locker in Schwingung gerät. | |
## Therapie-Stuhlkreis-Striptease | |
Ein gigantischer 1913-Therapie-Stuhlkreis-Striptease in Anwesenheit von | |
Freud und C. G. Jung, die hier selbst mehr zu Patienten werden, als dass | |
sie nur nüchterne Analysten blieben. Hochamt eines degenerierten, | |
kränkelnden, schwesternverliebten, selbstmordgefährdeten, impotenten und | |
überpotenten, erfolglosen und erfolgreicher werdenden, schnorrenden, | |
greinenden, jubilierenden, größenwahnsinnigen, selbstzweifelnden Vereins | |
augenscheinlich halb oder schon drei viertel irrsinniger Genies. | |
Selten wurde die Frage nach dem Wirkungsgrad der Kunst auf die Gesellschaft | |
verständlicher beantwortet als hier: Was will, was kann der Wettstreit der | |
Künstler um die eindrucksvollste und nachhaltigste Abbildung auch | |
gesellschaftlicher Widersprüche bewirken? Schon wenige Monate nach 1913 | |
begann das „Age of Extremes“ (Hobsbawm), also ein Schlachten und Morden, | |
das große Teile Europas und seiner Kultur in zwei aufeinanderfolgenden | |
Kriegen in Schutt und Asche legte. Die Vorkriegskunst wird so zum | |
nachgereichten Alibi für die Künstler. | |
Wenn es denn eine geheime These gibt in diesem angenehm untheoretischen | |
Buch, dann wohl diese: War die Moderne wirklich das Ergebnis des Ersten | |
Weltkriegs oder war nicht am Ende der Erste Weltkrieg die Folge der | |
Moderne? Kein Wunder also, dass Hitler und Stalin zu einem einzigen | |
Zeitpunkt ihres Lebens am selben Ort waren – im Januar 1913, | |
spazierengehend im Park von Schloss Schönbrunn. | |
## Rilke hat Schnupfen | |
Natürlich könnte man die ungeheure Menge an Ereignissen und Episoden kaum | |
an einem Stück durchhecheln. Aber das ist der Kunstgriff von Illies: Er | |
fächelt immer wieder Luft. Ein zweiter Pausenticker berichtet in wenigen | |
Sätzen, was sonst noch so geschah. Manchmal in direktem Bezug, manchmal | |
fast dadaistisch, wenn zum Beispiel berichtet wird, dass Rilke Schnupfen | |
hat, Aldi gegründet oder Burt Lancaster geboren wird. | |
Ein lustiges Durchatmen also nach jedem dritten oder vierten Absatz | |
Hochkultur. Pausenzeichen. Es ist, als hätte Illies nicht nur eine Schrift | |
aus dem Jahre 1913 für den Satz seines Buches verwandt, sondern auch jene | |
Form des „synthetischen Kubismus“, die Picasso 1913 berühmt machte: also | |
die Collage als aufregendes Experiment aus Gefundenem und Gemaltem, Abbild | |
und Erzählung. | |
25 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Alexander Wallasch | |
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Buch | |
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