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# taz.de -- Wenn die einzige Tochter auszieht: Wie eine Trennung, nur schlimmer
> Ein verwaistes Zimmer, hin und wieder eine SMS. Wie ist es für eine
> Mutter, wenn die einzige Tochter auszieht? Für die eine ist es großartig,
> die andere trauert.
Bild: Und auf einmal ist da so viel Raum zwischen Mutter und Tochter. Wie geht …
Zerfledderte Kinderbücher, eine kaputte Lampe und eine leere Bierkiste: Das
ist alles, was von ihr hiergeblieben ist. Seit meine Tochter vor ein paar
Wochen ausgezogen ist, stehe ich oft in ihrem leeren Zimmer. Die Luft ist
schlecht, es hallt, es ist kalt.
Manchmal starre ich minutenlang auf die kahlen Wände. Es ist das größte
Zimmer in der Wohnung, es geht zum Hof, und im Sommer wirft der Götterbaum
immer mal ein paar Blätter durchs geöffnete Fenster. Was mache ich damit?
Vermieten? Selber einziehen?
Wenn diese Gedanken in mir hochkriechen, gehe ich ganz schnell wieder raus
und schmeiße Franz Ferdinand in den CD-Player. Meine Tochter ist gerade 18
geworden, seit Oktober studiert sie Mathematik. Das ist großartig, ich bin
stolz auf sie. Und fühle mich so einsam wie schon lange nicht mehr. Früher
habe ich es belächelt, wenn Freunde, die den Weggang ihrer Kinder schon
hinter sich haben, sagten: Das ist wie eine Trennung.
Heute weiß ich: Es ist viel schlimmer.
Mit meiner Tochter sind nicht nur all ihre Möbel, ihre Bücher und ihre
unzähligen Schuhe ausgezogen. Sondern auch ihre Fröhlichkeit und ihr Humor,
unsere Innigkeit und unsere Vertrautheit. Machmal saßen wir abends
nebeneinander auf dem Badewannenrand und plauderten: über die Schule, ihre
Freunde, die Liebe und das Leben. Gern tänzelte sie vor mir herum und sang
irgendetwas. Ich verstand nichts, weil sie die Zahnbürste im Mund hatte.
## „Ich zieh zu Papa“
Sie ist mein einziges Kind, ich habe sie allein großgezogen. Wir haben eng
zusammengelebt, unsere Beziehung war intensiv. Vor allem in unseren
dramatischen Phasen, wenn Streite, Flüche und Verwünschungen wie Blitze
durch die Wohnung schossen. Wenn ich die "beschissenste Mutter auf der
ganzen Welt" war und sie das "renitenteste Kind überhaupt". Wenn sie
drohte: „Ich zieh zu Papa“, und ich zischte: „Viel Spaß!“
Das ist lange vorbei und unsere letzten drei Jahre waren Freude pur.
Manchmal hat sie Chili-Pommes mit Käse in den Ofen geschoben und eine DVD
in ihren Laptop. „Los, Mama, jetzt machen wir es uns gemütlich.“
Ich war nie eine Helikopter- und auch keine Gluckenmutter. Neben dem Leben
mit dem Kind hatte ich auch immer mein eigenes. Ich musste nie auf Kino,
Theater, Clubs und Liebhaber verzichten. Es tröstet mich nicht, wenn
Freunde sagen: Dann hast du wieder Zeit für all das, was du lange nicht
machen konntest.
Ich bekomme jetzt viele Einladungen – damit ich nicht so allein bin. Ich
werde öfter als sonst zum Essen ausgeführt – weil das zu zweit schöner ist.
Ich kriege massenhaft Bücher geschenkt – obwohl sich meine Regale schon
durchbiegen.
## Ich vermisse die angerotzten Tempos
Am Wochenende, wenn meine Tochter und ich ausgiebig frühstückten,
beobachteten wir von unserer Küche aus die Leute in den Fenstern gegenüber.
Wir kennen sie nicht, aber wir haben ihnen Namen gegeben und Wetten
abgeschlossen, was sie als Nächstes tun. Ich vermisse die Morgen mit meiner
Tochter, wenn ich Kaffee für uns beide kochte. Ich vermisse ihre Socken und
die angerotzten Tempos, die überall in der Wohnung verteilt waren. Ich
vermisse selbst ihre Freunde, von denen manche mit mir sprachen, als sei
ich die Putzkraft in ihrer WG.
Als meine Tochter überlegte, wo sie studieren will, konnte es gar nicht
weit genug weg sein. Sie hatte befürchtet, dass ich jedes Wochenende vor
ihrer Tür stehe und Sätze sage wie: „Ich habe Rouladen mitgebracht.“ Jetzt
sind es zwei Autostunden geworden und ich war bisher ein einziges Mal bei
ihr.
Dafür ruft sie jeden zweiten Abend an. Ich kenne inzwischen alle
Fachbegriffe in Algebra, Analysis und objektorientierter Programmierung.
Ich weiß, was sie abends macht und wer Christian, Thomas und Hannes sind,
obwohl ich die noch nie gesehen habe.
An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt ein Foto von uns beiden. Wir
schicken uns Mails und SMS. Ich bin nicht bei Facebook. Ich will nicht
detektivisch verfolgen, wie meine Tochter in ihr eigenes Leben einsteigt.
Eine Freundin sagte neulich: „Die Nähe bleibt und es wird noch intensiver.“
Im November kommt meine Tochter das erste Mal seit ihrem Umzug "nach
Hause". Sie will drei Tage bleiben.
## Simone Schmollack, 48, ist Inlands-Redakteurin der taz
******
Meine Tochter hat im Juni Abitur gemacht. Nach der Zeugnisvergabe gingen
wir essen, danach verabschiedeten wir uns vor dem Restaurant, da sie noch
feiern gehen wollte. Seit diesem Abend ist sie weg.
Die ersten Tage hat sie mir nachts eine SMS geschickt: „Ich bleibe bei
Paul“. Kürzlich hat dieser Paul meine Bohrmaschine abgeholt. Ich vermute,
die beiden bauen sich in seiner Wohnung ein gemeinsames Nest. Meine Tochter
erzählt von Laminatböden, die rausgerissen werden müssen, und
orangefarbenen Emailleknöpfen für Kommoden.
Ab und zu gehe ich durch ihr verwaistes Zimmer, um zu lüften. Sie hat nur
ihre Kleider, einen großen Teil ihrer beträchtlichen Schuhsammlung und den
Computer mitgenommen. Der Rest wartet unter einer dicken Staubschicht
darauf, abgeholt zu werden. In meiner Wohnung ist es still geworden. Wenn
ich nach Hause komme, ist niemand da und das gefällt mir.
## Ich muss nicht mehr kochen
Keine Stolperfallen aus Taschen und Schuhen im Flur und keine unaufgeräumte
Küche mehr. „Konnte leider nicht abspülen, das Wasser hat so böse
geschäumt“, war eine ihrer besten Ausreden, die sie mir auf einem Zettel
hinterließ. Jetzt habe ich freie Bahn. Ich kann mich auf mein Sofa legen,
das nicht mehr von ihr besetzt ist, und Musik hören, ohne dass jemand
meinen schlechten Geschmack kommentiert. Ich muss nicht mehr kochen, nach
der Arbeit nicht in den Supermarkt hetzen, um den Kühlschrank zu füllen,
und keine Gespräche führen, obwohl ich meine Ruhe haben möchte.
Manchmal setze ich mich vor den Fernseher und esse und fühle mich in die
Zeit zurückversetzt, als ich von zuhause auszog.
Ich fühle mich befreit. Nach der Trennung von ihrem Vater haben wir fast 16
Jahre allein zusammengewohnt. Wir haben eine enge Beziehung. Ich mag alles
an ihr. Sie ist sehr aufgeweckt und witzig und versteht im Gegensatz zu mir
Mathe und die Abseitsregel beim Fußball.
Ich mag auch ihre Freunde, die durften meine Küche belagern, wann immer sie
wollten. Ich ließ mich ins Kino oder gleich zu meinem Freund schicken.
## Vielleicht war ich eine Glucke
Und ich war großzügig. Auch wenn meine Tochter sagte: Ich fahre jetzt zwei
Tage weg, aber in meinem Zimmer schlafen zwei Jungs, die ich mitgebracht
habe. Vielleicht war ich das, was heute Helikoptermutter genannt wird, eine
Glucke. Wer sich mit meiner Tochter anlegte, hatte mich an der Gurgel. Im
Kinderladen war ich Vorstand, in der Grundschule Elternsprecherin und
Delegierte in der Gesamtlehrerkonferenz. Sechs Jahre lang fuhr ich mit auf
Klassenreise und buk für jeden Basar Kuchen. Als ich keine Lust mehr hatte,
mich in der Schule zu engagieren, übernahm das meine Tochter.
Fasching wollte sie jedes Jahr ein anderes Tier sein. Also nähte ich für
die traurige zweistündige Berliner Feier ein Kostüm und kleidete ihre
Lieblingskuscheltiere auch mit ein. Ich verbrachte viel Lebenszeit in
Arztpraxen. Sie hatte nicht nur ständig Infekte und mehrere Allergien,
sondern schiefe Zähne und krumme Beine.
Da sie unbedingt was zum Kuscheln brauchte, mussten zwei Zwergkaninchen ins
Haus. Die entwickelten sich zu fetten Monstern, nagten alles an und hatten
das Kinderzimmer bald für sich allein. Ihre Allergie gegen Kaninchenhaare
machte mich zur alleinigen Tierpflegerin.
Nachdem wir die Kaninchen weggeben mussten, kauften wir einen männlichen
Hamster, der zwei Tage später mit fünf kleinen Hamstern im Käfig saß. Für
die niederen Arbeiten, wie Stall sauber machen, füttern und zum Tierarzt
gehen, wurde ich eingeteilt. Bis zum letzten Schultag habe ich sie geweckt,
das Frühstück auf den Tisch gestellt und die Schulbrote eingepackt. Den
Sportbeutel habe ich ihr sicher bis zur 10. Klasse nachgetragen.
## Kein Warten mehr auf den Schlüssel in der Tür
Und endlich kann ich wieder ruhig schlafen. Nicht mehr dieses unterbewusste
Warten, bis ich ihren Schlüssel in der Tür höre. Das konnte lange dauern.
Wenn ich Pech hatte, bis fünf Uhr morgens. Wenn ich ganz großes Pech hatte,
war sie betrunken und musste noch erzählen, was so los war.
Sobald sie ein Kind bekommt, hat meine Tochter verkündet, würde sie wieder
in meine Nähe ziehen, ich könne das ja so gut. Bis es so weit ist, genieße
ich meine Freiheit.
## Isabel Lott, 50, ist Foto-Redakteurin der taz
3 Nov 2012
## AUTOREN
S. Schmollack
I. Lott
## TAGS
Mütter
Tochter
Kind
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