# taz.de -- Moral oder Verwaltung?: "Ich bin hier eine Art Exot" | |
> Wenn in den letzten dreißig Jahren der Eindruck entstehen konnte, in | |
> Bremen gehe man etwas besser mit Minderheiten um als in anderen Teilen | |
> der Republik - dann liegt das auch an Helmut Hafner in seiner | |
> Rathaus-Dachkammer. | |
Bild: Hofft, mehr als auf die Politik, auf die Zivilgesellschaft: Helmut Hafner. | |
taz: Herr Hafner, hier in Ihrem Büro im dritten Stock des Bremer Rathauses | |
sieht es aus wie in einer Gelehrtenstube. Wohnt hier der gute Geist der | |
Stadt? | |
Helmut Hafner: Vielleicht wohnt er hier, aber ich bin ihm noch nicht | |
persönlich begegnet. Aber ich arbeite sehr gern im Rathaus. Hierher kommen | |
nicht nur die wohlhabenden Bürger zum Schaffermahl. Hier treffen wir uns | |
auch mit Sinti und Roma, hierher kommen die Muslime zum Ramadan-Empfang. | |
Das Rathaus ist offen für alle. | |
Und wer Sie besuchen will, muss eben ganz nach oben. | |
Dieses war von Anfang an mein Büro. Vor ein paar Jahren musste ich darum | |
kämpfen, weil die Feuerwehr meinte, der einzige Rollstuhlfahrer des Hauses | |
sollte nicht im letzten Zimmer sein. | |
Konnten Sie an diesem entlegenen Ort in den vergangenen dreißig Jahren den | |
Ränkespielen aus dem Wege gehen? | |
Die spielen hier keine Rolle. Das Rathaus ist in erster Linie Verwaltung. | |
Und darin bin ich eine Art Exot. Ich darf mich um Themen kümmern, die nicht | |
im Verwaltungsalltag verankert sind. | |
Hat es Sie nie selbst auf die politische Bühne gedrängt? | |
In meiner Jugend war ich politisch sehr engagiert. Irgendwann habe ich aber | |
gespürt, dass mir das dicke Fell fehlt, um ein richtiger Politiker zu | |
werden. | |
Sie beraten jetzt nun schon den vierten Bremer Bürgermeister in Religions- | |
und Grundsatzfragen, seit Hans Koschnick Sie eingestellt hat. Wahrgenommen | |
wurden Sie oft als Redenschreiber. Nun hat man Henning Scherf aber selten | |
mit einem Manuskript in der Hand gesehen. | |
Ich habe immer nur Reden zu Themen der Geschichte, Theologie und | |
Philosophie entworfen. Aber bei Scherf hatte ich tatsächlich mehr | |
Freiheiten. Die habe ich genutzt, um mit anderen zivilgesellschaftliche | |
Projekte auf den Weg zu bringen. | |
Eines davon ist die „Nacht der Jugend“ im Rathaus, die nun bereits ihre 15. | |
Auflage erlebt. | |
Sie ist eine Erinnerungsveranstaltung an das Morden in der Nazizeit und | |
kämpft für eine menschenfreundliche Gegenwart. Sie will vor allem | |
Jugendliche erreichen, um mit ihnen nachzudenken, wie wir gemeinsam | |
demokratisches und humanes Denken und Handeln befördern können. Das | |
Entscheidende für mich dabei ist, dass sich circa 400 Jugendliche an der | |
Vorbereitung beteiligen. Viele kommen aus weniger wohlhabenden Gegenden. | |
Und alle machen die Erfahrung, dass sie wichtig sind und gebraucht werden | |
in unserer Stadt. | |
Interessieren sich Jugendliche, deren Vorfahren zum Beispiel aus der Türkei | |
kommen, für die Reichspogromnacht? | |
Natürlich gibt es die Frage: Warum sollen wir uns noch an die Nazi-Zeit | |
erinnern? Viele dieser Jugendlichen kennen die persönliche Erfahrung, sich | |
wertlos und unerwünscht zu fühlen – oft aus der eigenen Familie. Und das | |
ist die Brücke, um zu begreifen, was damals Unschuldige erlebt und erlitten | |
haben. Wohin die Geringschätzung von Menschen führen kann. Dann verstehen | |
sie, dass Erinnern notwendig ist. | |
Neben Zeitzeugen, Ausstellungen und Diskussionen gibt es bei der Nacht auch | |
Hip-Hop- und Rock-Musik. Wie passt das zusammen? | |
Wir hatten einmal eine Cheerleader-Gruppe eingeladen. Sie waren gerade | |
Vize-Weltmeister geworden. Ein jüdischer Jugendlicher sagte zu mir: Helmut, | |
Cheerleader und Holocaust, das geht gar nicht zusammen. Da habe ich ihm | |
gesagt: Diese 15 jungen Frauen aus acht Nationen üben das ganze Jahr, nun | |
wollen sie ihren Sport hier zeigen, um ein Zeichen gegen Antisemitismus und | |
Rassismus zu setzen. Willst du die draußen haben? „Da muss ich nochmal | |
nachdenken“, war seine Reaktion. | |
Eine Gratwanderung? | |
Alle, die hier auftreten, müssen ihr Können und ihre Kunst in den Dienst | |
unserer Ideen und Ziele setzen. Und die heißen: Respekt, Anerkennung, | |
Zivilcourage, Verantwortung, Demokratie und Menschenwürde. | |
Die „Nacht der Jugend“ ist einmal gegen eine ritualisierte | |
Erinnerungskultur entstanden. Wird sie selbst mal ein Ritual? | |
Die Gefahr ist immer groß, aber es kommen immer neue Jugendliche zur | |
Vorbereitung, mit immer neuen Anregungen und Ideen. Die finden das Erinnern | |
wichtig, da müssen wir keine Überzeugungsarbeit leisten. Aber die Frage, | |
wie das geschehen soll, das ist eine ständige spannende Diskussion. | |
Ein anderes großes Projekt, das Sie mit auf den Weg gebracht haben, ist die | |
Integrationswoche. Wie kam es dazu? | |
Als Henning Scherf 1996 Bürgermeister wurde, war sein erstes großes | |
gesellschaftliches Ereignis der Neujahrsempfang. Die Vertreter aller | |
Religionen sollten ein Grußwort sprechen. Der katholische Bischof war da, | |
der evangelische Schriftführer und der Rabbiner. Keiner hat einen Muslim | |
vermisst. Falls doch – wir hätten gar keinen Ansprechpartner gekannt. | |
Was sich änderte. | |
Im gleichen Jahr bat zum ersten Mal eine muslimische Gemeinschaft um ein | |
Gespräch mit dem Bürgermeister. Es kam eine Gruppe von fünf Männern mit der | |
Botschaft: Uns gibt es hier, wir leben gern hier und wir möchten die | |
Beziehungen mit der Stadt intensivieren. Ich hatte so gut wie keine Ahnung | |
vom Islam. Ab damals wurde er jedoch zu einem Schlüsselthema für uns. Und | |
wenig später haben wir mit einer kleinen Gruppe von Muslimen und | |
Nichtmuslimen die erste Islamwoche organisiert, den Vorläufer der | |
Integrationswochen. Das war 1997, und es war die erste Veranstaltung dieser | |
Art in ganz Deutschland. | |
Nach dem 11. September 2001 wurde der Bremer Senat scharf kritisiert: Er | |
gehe er zu tolerant mit den Muslimen um, insbesondere mit der Gruppierung | |
Milli Görüs. | |
Diese ersten Muslime, die die Islamwoche mit uns organisiert hatten, kamen | |
von Milli Görüs. Und ich wusste, dass die Beschuldigungen ihnen gegenüber | |
nicht zutrafen, was Bremen anbelangt. Der 11. September war für die gesamte | |
Begegnungsarbeit eine Zäsur: Muslime, die sich in ihrer Nachbarschaft wohl | |
gefühlt hatten, merkten plötzlich, dass man Argwohn gegen sie hegte. Wir | |
haben versucht gegenzusteuern. 2002 gab es die zweite Islamwoche. Wir | |
wussten: Die Muslime selbst sind der beste Schutz gegen gewaltbereite | |
Menschen, die die Religion missbrauchen. | |
Bedeutet das Bekanntwerden der NSU-Morde vor einem Jahr wieder so eine | |
Zäsur? | |
Ja, denn die Verunsicherung ist nach wie vor groß. Das teilweise staatliche | |
Versagen hat viel Vertrauen zerstört. Die Erfahrung, als Opfer zu Tätern | |
gemacht zu werden, ist eine tiefe Verletzung. Das Innenministerium und die | |
Sicherheitsbehörden müssen sich gewaltig anstrengen, strukturell, mental | |
und inhaltlich, um neues Vertrauen aufzubauen. | |
Eine andere Gruppe, mit denen Sie zahlreiche Kontakte pflegen, sind die | |
Sinti und Roma. Woher rührt diese Verbindung? | |
Aus einem dramatischen Kindheitserlebnis. Ich war fünf Jahre alt und ging | |
mit meinem 14 Jahre älteren Bruder zu einem See. Meine Mutter sagte zu ihm: | |
Pass gut auf Helmut auf, dort sind „Zigeuner“, die stehlen Kinder. Mein | |
Bruder hat nicht auf mich aufgepasst, ich bin abgerutscht, in den See | |
gefallen und fast ertrunken. Ein „Zigeuner“ hat mir das Leben gerettet. | |
Seitdem war das ein heiliges Wort in meiner Familie. | |
Hat also dieser Badeunfall letztlich dazu geführt, dass es seit 1992 einen | |
nationalen Gedenktag für den Völkermord an den Sinti und Roma gibt? | |
Klaus Wedemeier, von 1985 bis 1995 Bürgermeister, hat damals die Initiative | |
ergriffen, dass neben den Juden auch die Sinti und Roma einen jährlichen | |
Gedenktag bekommen. Dies ist nun der 16. Dezember: An diesem Datum gab es | |
1942 den Auschwitz-Erlass Heinrich Himmlers, der die Vernichtung der | |
europäischen Sinti und Roma vorsah. | |
Nach langem Hin und Her haben die Sinti und Roma jetzt auch in Berlin eine | |
nationale Gedenkstätte. Gleichzeitig werden aus Deutschland Roma in Länder | |
abgeschoben, in denen sie drangsaliert und verfolgt werden. Wie empfinden | |
Sie diesen Widerspruch? | |
Damit leben wir ja schon sehr lange. Dabei geht nicht nur um Sinti und | |
Roma. Es ist eine Grundfrage, wie unser reiches Land mit Menschen umgeht, | |
die, egal aus welchen Nöten, zu uns kommen. Ich habe es selbst erlebt, wie | |
junge Menschen, die perfekt deutsch sprachen und hier gelebt haben, mit | |
Gewalt abgeschoben wurden. Das ist tieftraurig für mich – auch die | |
Hilflosigkeit zu spüren. | |
Können Sie das gegenüber den zuständigen Instanzen äußern? | |
Meist kommt es auf das Grundsätzliche zurück: Wir können nicht alle | |
aufnehmen, unser Asylgesetz ist nur für die, deren Leben bedroht ist. Meine | |
Hoffnung richtet sich da nicht so sehr auf die Politik, sondern auf die | |
Zivilgesellschaft, die Druck ausüben muss. | |
11 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
## TAGS | |
Hans Koschnick | |
Religion | |
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