# taz.de -- JUSTIZ: "Ich war eine Art Natascha Kampusch" | |
> Eine 72-Jährige quält ihre Mitbewohnerin jahrelang. Dafür erhält sie eine | |
> Bewährungsstrafe. | |
Bild: Pfefferspray sprühte die Verurteilte in die Wunden ihrer Mitbewohnerin. | |
Der Staatsanwalt spricht von einem „mich leicht fassungslos hinterlassenden | |
Martyrium“. Drei Sätze später erklärt er: „Meine Fassungslosigkeit hält | |
an.“ Um dann zu versprechen: „Ich will meine Fassungslosigkeit in den Griff | |
kriegen.“ Rosemarie K. löste die Konfusion der Staatsgewalt aus, eine | |
kleine, burschikose Rentnerin, die im Prozess Bananen in sich stopft, um | |
einer Unterzuckerung vorzubeugen. Mit vollem Mund nennt die 72-Jährige dem | |
Richter ihre Personalien, alles Weitere übernimmt ihr Verteidiger. Der hat | |
mit dem Amtsgericht Tiergarten eine Obergrenze von zwei Jahren Haft zur | |
Bewährung verabredet. Dafür zeigt sich seine Mandantin „geständig in allen | |
Anklagepunkten, die sie in hohem Maß bedauere“. Auch die | |
Schmerzensgeldforderung von 30.000 Euro erkennt die | |
Grundsicherungs-Empfängerin an. | |
Sechs Fälle schwerer und gefährlicher Körperverletzung zwischen 2008 und | |
2010 werden ihr angelastet: Rosemarie K. habe ihrer Mitbewohnerin Sabine S. | |
(Name geändert) mit einem Glas die Ecke eines Zahnes ausgeschlagen; der 24 | |
Jahre Jüngeren mit einer leeren Bierflasche auf Kopf, Arme und Rücken | |
gedroschen, um danach Pfefferspray auf die Wunden zu sprühen. Mit einer | |
abgebrochenen Bierflasche habe sie ihrem Opfer ein Auge ausgeschlagen, sie | |
stundenlang in ein Zimmer gesperrt. | |
„So etwas ist öfter passiert. Aber diesmal war es extrem lange“, erinnert | |
sich die Zeugin. Sie habe sich für die Misshandlungen „wahnsinnig geschämt�… | |
und nicht getraut, um Hilfe zu rufen. Als die Dunkelheit hereingebrochen | |
war, befestigte sie zusammengeknotete Laken an der Heizung und versuchte, | |
sich aus dem zweiten Stock abzuseilen. Dabei fiel sie mehrere Meter in die | |
Tiefe. Seitdem ist ihr Fersenbein zertrümmert, die Floristin kann in ihrem | |
gelernten Beruf nicht mehr arbeiten. 15 Jahre habe sie unter Rosemarie K. | |
gelitten, sie erst vor zwei Jahren verlassen können. Warum? | |
„Ich hatte eine schwere Mutter-Tochter-Beziehung“, erklärt die Zeugin. Auf | |
der Suche nach Liebe und Anerkennung geriet die kaum Volljährige in eine | |
Sekte. Dort begegnete die mittlerweile Verheiratete ihrer Peinigerin. Die | |
befreite sie zwar von den spirituellen Fesseln, ersetzte diese aber durch | |
ihre eigenen. „Ich war so eine Art Natascha Kampusch“, meint Sabine S. Sie | |
durfte ihre beiden Kinder nicht mehr sehen und musste die Ältere bekochen, | |
für sie putzen und ihre Füße massieren. Es sei keine Liebesbeziehung | |
gewesen. Dennoch habe ihr Rosemarie K. anvertraut, dass sie vor 20 Jahren | |
ihre Geliebte erschlagen hatte, deswegen sei sie zu sechs Jahren Haft | |
verurteilt worden. Mitte der 90er Jahre durfte K. das Gefängnis verlassen | |
und traf Sabine S. | |
Obwohl sie weiterhin gequält haben soll, lebte die Sadistin offiziell | |
straffrei – mehr als zehn Jahre lang. Darum ist ihr Strafregister leer, | |
darum kann die Justiz diese Vorstrafe nicht zur Wertung heranziehen. Auch | |
wenn es der fassungslose Staatsanwalt gern täte, indem er mehr als die | |
vereinbarte Strafobergrenze fordert – nämlich 34 Monate, die nicht mehr zur | |
Bewährung ausgesetzt werden könnten. | |
Der Richter und seine beiden Schöffen bleiben aber bei der verabredeten | |
Strafe. Eine höhere sei nicht im Interesse der Geschädigten, die auch eine | |
Mitverantwortung trage, weil sie keinen Widerstand geleistet habe. Das | |
Gericht glaubt, dass K. keine weiteren Straftaten begehen wird: „Es handelt | |
sich um eine Beziehungstat, eine Wiederholung ist nicht zu erwarten“, so | |
der Richter. Die Verurteilte will sich bei Sabine S. entschuldigen: „Es tut | |
mir leid, es war nicht mit Absicht.“ | |
Die Adressatin, mittlerweile in einer evangelischen Gemeinde integriert, | |
will ihr im christlichen Sinne verzeihen. Sie tue es für sich, sagt Sabine | |
S. So verbänden sie keine Gefühle mit Rosemarie K. | |
4 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Uta Eisenhardt | |
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