# taz.de -- Hirschforschung: Uwe Kierdorf erforscht in Hildesheim Geweihe.: "Ge… | |
> Geweihe erzählen nicht nur, wie viel Blei um 1750 in der Luft war und wie | |
> sich Atomtests auswirken: Hirsche sind auch Experten für Knochenwachstum | |
> und daher für die Osteoporose-Forschung wichtig. | |
Bild: Betreiben alljährlich einen Riesenaufwand für ihr Geweih: Hirsche. | |
taz: Herr Kierdorf, warum erforschen Sie Hirschgeweihe? | |
Uwe Kierdorf: Geweihe sind in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits | |
sind sie Umwelt-Archive. Andererseits sind Hirsche Experten für | |
Knochenaufbau. | |
Beginnen wir mit den Umwelt-Archiven. | |
Im Geweih lagern sich gewisse Substanzen ab – Blei, Fluorit und das | |
radioaktive Isotop Strontium-90 zum Beispiel. Anhand eines Geweihs können | |
wir daher erforschen, wie stark die Umweltbelastung vor und nach der | |
Industrialisierung beziehungsweise vor und nach der Einführung des | |
bleifreien Benzins war. | |
Und vor und nach Atomtests und Tschernobyl. | |
Ja, das waren Ende der 50er Jahre sogar die ersten diesbezüglichen Studien. | |
Damals hat man Strontium-90 in den Geweihen gefunden und es in Zusammenhang | |
mit den atmosphärischen Atombomben-Tests gebracht. | |
Was kam heraus? | |
Dass sich Radionukleide global verteilen. Wenn man in einer Wüste der USA | |
eine Bombe zündet, haben die europäischen Hirsche nach ein paar Monaten | |
massiv Strontium-90 im Geweih. | |
Wie alt war das älteste Geweih, das Sie untersucht haben? | |
Es stammte aus der Zeit relativ kurz nach dem 30-jährigen Krieg, also aus | |
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. | |
Kann man am Geweih auch das Alter des Tiers ablesen? | |
Das ist einer der populären Irrtümer: dass man nur die Enden des | |
Rothirsch-Geweihs zählen muss, um das Alter des Tiers in Jahren anzugeben. | |
Aber so einfach ist es nicht. Natürlich stimmt es, dass das erste Geweih | |
beim Rothirsch aus nicht verzweigten Stangen besteht und dass die folgenden | |
Geweihe für einige Jahre größer und komplexer werden. Wenn der Hirsch | |
seinen Zenit überschritten hat, werden die Geweihe aber wieder kleiner. | |
Können Sie das Entstehungsjahr eines Geweihs erkennen? | |
Nein. Ich muss darauf vertrauen, dass die Beschriftung stimmt. | |
Wo finden Sie so alte Geweihe? | |
In privaten Sammlungen oder Schlössern. | |
Wie schnell wächst ein Geweih? | |
Der Rothirsch etwa wirft sein Geweih Ende Februar bis März ab und bildet | |
dann ein neues Geweih, das er im Juli oder August abwirft. Das Geweih | |
wächst um bis zu zwei Zentimeter täglich. | |
Ein großer Aufwand von Mutter Natur. | |
Ja, die Tiere – übrigens die einzigen Säugetiere mit solch einem | |
Regenerationsmechanismus – müssen – wie der erwachsene Rothirsch – in 3,5 | |
Monaten eine Struktur mit 12 bis 14 Kilo Knochenmasse bilden. Dafür braucht | |
der Hirsch sehr viel Kalzium und Phosphor. Weil er aber während der | |
Geweihbildungs-Phase nicht genug davon über die Nahrung aufnehmen kann, | |
baut er vorübergehend Teile anderer Knochen ab – der Rippen zum Beispiel. | |
Wenn das Geweih fertig ist, baut er die Rippenknochen wieder auf. Es gibt | |
im Skelett des Hirschs also einen zyklischen Knochenab- und -anbau. | |
Wozu muss man das wissen? | |
Es ist für die Osteoporoseforschung interessant. Auch hier werden über | |
längere Zeit mehr Knochen ab- als aufgebaut, sodass sich die Knochenmasse | |
verringert. Anders als der Hirsch kann der Mensch das aber nicht | |
kompensieren. Es gibt auch noch kein Medikament, das zuverlässig die | |
Bildung mechanisch stabiler Knochensubstanz bewirkt. Wenn wir also den | |
Mechanismus des Hirschs verstehen, können wir vielleicht endlich ein | |
wirksames Osteoporose-Medikament entwickeln. | |
Ihre Forschung besteht also aus Laboranalysen? | |
Unter anderem. Für manche Experimente braucht man allerdings Versuchstiere, | |
denen man bestimmte Substanzen injiziert. Für andere Untersuchungen | |
wiederum braucht man frische Geweihzellen. | |
Und die Geweihe sägen Sie den Versuchtstieren bei vollem Bewusstsein ab? | |
Nein, das ist für die Tiere schmerzhaft und in der EU verboten. Anderswo | |
ist es aber erlaubt. Die Betreiber kommerzieller Hirschfarmen in Neuseeland | |
etwa verdienen einen erheblichen Teil ihre Einkommens dadurch, dass sie | |
diese Geweihe absägen und verkaufen. | |
Werden die Tiere dort nicht betäubt? | |
Nicht pharmakologisch, weil die Betäubungs-Substanz ins Geweih gelangen | |
würde, und das wollen die Kunden nicht. Die Farmer ziehen deshalb dicke | |
Gummiringe um das Geweih, sodass es taub wird – wie ein eingeschlafenes | |
Bein etwa – und sägen es dann ab. Über die Wirkung dieses Verfahrens auf | |
die Tiere gibt es Studien. Ihnen zufolge funktioniert es einigermaßen. | |
Und wie beschaffen Sie sich frische Geweih-Zellen? | |
Die Gewebeproben, die wir in den letzten Jahren untersucht haben, stammten | |
von Tieren, die wir vorher erschossen hatten. Wenn ich aber ein Experiment | |
mache, bei dem ich das Tier eine Zeit lang beobachte, brauche ich es | |
lebend. Dann muss ich die Stellungnahme einer Ethik-Kommission einholen, um | |
die Genehmigung für einen Tierversuch zu bekommen. Denn erstens soll dem | |
Tier kein vermeidbares Leiden zugefügt werden, und zweitens muss der | |
Eingriff im Verhältnis zum Erkenntnisgewinn stehen. | |
Fällt es Ihnen schwer, etwas zu tun, das dem Tier Schmerzen bereitet? | |
Ich würde kein Experiment machen, das dem Tier dauerhaft Schmerzen zufügt. | |
Und wir betäuben die Tiere natürlich, bevor wir Gewebeproben entnehmen. | |
Aber nach Abklingen der Betäubung hat es – wie ich nach dem Zahnziehen – | |
vielleicht noch für kurze Zeit leichte Schmerzen. Das muss man in Kauf | |
nehmen. | |
Trösten oder belohnen Sie das Tier danach? | |
Die Tiere müssen natürlich gut versorgt werden, das ist klar. Dass sie für | |
tröstenden Zuspruch empfänglich sind, halte ich aber eher für eine Deutung | |
des Menschen. Das mache ich vielleicht für meinen Hund: Wenn er beim | |
Tierarzt seine Spritze kriegt, bekommt er ein Leckerchen. Aber auch hier | |
ist die Frage, ob ich das nicht eher tue, um mich selbst besser zu fühlen. | |
Wie viele Versuchstiere haben Sie? | |
In Hildesheim haben wir gar keine. Wir arbeiten aber mit spanischen | |
Kollegen zusammen, die eine Tierversuchsherde haben. Sie ergründen gerade, | |
wie sich der Geweihknochen bildet. | |
Apropos: Wenn vom Geweih außerplanmäßig etwas abbricht: Wächst es perfekt | |
nach? | |
Wenn es eine starke Verletzung des wachsenden Geweihs ist, wird sich eine | |
abnorm geformte Geweihstange bilden. Das ist aber kein Problem, weil sie ja | |
abgeworfen und im nächsten Jahr durch eine neue ersetzt wird. | |
Am Geweih der nächsten Saison wird man nicht erkennen, wo einst die | |
Verletzung war? | |
Das ist umstritten. Ein befreundeter kanadischer Forscher vermutet, dass | |
der Hirsch eine Art trophisches Gedächtnis hat. Das heißt, dass an der | |
Stelle, wo das vorjährige Geweih verletzt war, eine Abnormität entsteht – | |
ein zusätzliches Ende oder so etwas. | |
Sie glauben das nicht? | |
Es gibt in meinen Augen noch nicht genug Belege für diese Hypothese. Die | |
Frage ist auch, wie die Erinnerung an die einstige Verletzung aufrecht | |
erhalten wird. Im Geweih selbst kann sie nicht gespeichert werden, weil das | |
ja abgeworfen wird. Es müsste also einen Informationsfluss vom Geweih zum | |
zentralen Nervensystem geben. Dort müsste die Information über Monate | |
gespeichert, in der nächsten Geweihbildungsphase abgerufen und an die | |
richtige Stelle transportiert werden. Die These ist hoch interessant, aber | |
dass es diese Art von Erinnerung gibt, ist noch nicht zweifelsfrei belegt. | |
Hängen bei Ihnen zu Hause Geweihe an der Wand? | |
Ja. Aber nur solche, zu denen ich eine persönliche Beziehung habe. | |
Sind Sie Jäger? | |
Ja. Aber meine Geweihe zu Hause habe ich von meinem Vater geerbt. Auch er | |
war Jäger. | |
Können Sie sich vorstellen, irgendetwas anderes zu machen als | |
Geweihforschung? | |
Ich betreibe ja nicht nur Geweihforschung. Da es vom Experiment bis zur | |
Auswertung meist lange dauert, habe ich reichlich Zeit für andere Dinge. | |
Wir haben hier am Institut zum Beispiel eine Arbeitsgruppe, die sich mit | |
menschlicher Knochenpathologie befasst – auch bei Skeletten aus | |
archäologischen Grabungen. Außerdem forschen wir über Umwelteinflüsse auf | |
die Zahnhartsubstanzen. Aber letztlich haben all diese Forschungen | |
natürlich mit mineralisierten Geweben zu tun. Und die interessieren mich | |
immer noch brennend. | |
5 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |