| # taz.de -- Stadt im Wandel: Die Kunst der Deutung | |
| > Historische Fotografien sind en vogue. Doch Diethelm Knauf zeigt, wie man | |
| > der allgegenwärtigen Nostalgiefalle gut informiert entkommen kann. | |
| Bild: Alles vorbereitet für den "Führer": Blick auf die Bremer Bahnhofstraße… | |
| Diethelm Knauf ist der wohlmöglich beste Kenner der Bremer Geschichte – | |
| seit es Zelluloid gibt. Nicht zu vergessen dessen Vorgänger-Materialien. | |
| Knauf ist langjähriger Leiter des Landesfilmarchivs, doch auch mit | |
| stehenden Bildern kennt sich der Historiker bestens aus. Für den nun | |
| herausgekommenen Band „Bremen im Bild“ wählte er aus den über 300.000 | |
| Abbildungen im Bestand des Zentrums für Medien im Landesinstitut für Schule | |
| 165 Fotografien aus. Sie stammen aus den Jahren 1890 bis 1950. | |
| Wie schon in früheren Bild-Editionen setzt Temmen dabei durchaus nicht nur | |
| auf bekannte Motive, auf repräsentative Großbauten und unmittelbar | |
| Wiedererkennbares. Sondern auch auf schlichte Szenen aus dem Arbeits- und | |
| Alltagsleben. Was „Bremen im Bild“ jedoch beispielsweise von Holle | |
| Weisfelds ebenfalls bei Temmen erschienenen „Photografischen Streifzügen“ | |
| unterscheidet, ist die Dichte der mitgelieferten Information. | |
| Knauf gelingt es, sowohl in grundlegenden Kapiteln zum „kulturellen | |
| Gedächtnis“ oder zur „Spezifik der Fotografie“, aber auch konkret anhand | |
| der einzelnen Bilder, so vielfältige Aspekte wie Sozialstruktur, | |
| Architektur, Wirtschaft oder gegebenenfalls Religionskunde zu | |
| exemplifizieren. | |
| Immer dabei: eine Reflexion zur Medienrezeption. Selten bekommt man so | |
| kompakte Kontextualisierungen geliefert. In Zeiten, in denen selbst | |
| Bäckereifilialen auf die auratische Aufladung ihrer Discount-Locations | |
| durch reichlich Sepia-Braun setzen, ist das ein ebenso wohltuender wie | |
| notwendiger Ansatz. | |
| Mit diversen Farbfotografien dokumentiert Knauf etwa den immensen Aufwand, | |
| den die Stadt 1939 betrieb, um Hitler anlässlich einer Brückeneinweihung zu | |
| empfangen. Dutzende goldener Reichsadler auf hohen Sockeln säumten die | |
| Bahnhofsstraße. Hitler sagte jedoch kurzfristig ab. Vier Jahre zuvor soll | |
| er Bremen als „Schweineplatz“ tituliert haben, weil die Belegschaft der AG | |
| Weser nicht in den erwarteten Jubel bei der Taufe der „Scharnhorst“ durch | |
| Hitler ausgebrochen sein soll. | |
| Knauf widmet sich eingehend der Frage, welchen ideologischen Standpunk der | |
| Fotograf Heinrich Raschen wohl eingenommen hat, während er die perfekte | |
| Inszenierung des geplatzten Hitler-Empfangs in seinem Medium reproduzierte. | |
| Und erwähnt en passant, dass die Schwachhauser Parteizugehörigkeits-Quote | |
| im Jahr 1938 mit 1:21 dreimal so hoch war wie der Gröpelinger Wert. | |
| Die Wohnsituation im Nachkriegs-Bremen bildet einen weiteren spannenden | |
| Themenkomplex. Knauf liefert hierzu eindrückliche Fotos und nüchterne | |
| Fakten: Trotz der im Juli 1945 durch die Besatzer verhängten Zuzugssperre | |
| seien bis Ende des Jahres 30.000 Flüchtlinge in die zu 60 Prozent zerstörte | |
| Stadt geströmt. | |
| Einen – allerdings in Niedersachsen Gestrandeten – lässt Knauf sogar | |
| unmittelbar zu Wort kommen: „Wir Flüchtlinge werden auf engstem Raum | |
| zusammengepfercht, wogegen es noch viele Einheimische verstehen, aber auch | |
| nichts von ihrer Wohnbequemlichkeit preiszugeben (...) man verbietet uns | |
| die Benutzung der Klosetts (...) man will uns Gas und elektrischen Strom | |
| nicht benutzen lassen, trotzdem uns Kontingente eingeräumt sind (...) | |
| tausenderlei andere Schikanen ersinnt man, um uns das Leben zur Hölle zu | |
| machen.“ | |
| „Bremen im Bild“ hält weitaus mehr, als der in nostalgischen Schnörkeln | |
| gehaltene Cover-Titel verspricht. Es ist keine lokalhistorische Wundertüte | |
| – sondern ein hervorragend gestaltetes Kompendium der Interpretationskunde. | |
| Allerdings: Die postulierte Idee, „natürlich gleichzeitig akademischen | |
| Ansprüchen genügen“ zu wollen, wird durch das völlige Fehlen von | |
| Quellenangaben konterkariert. | |
| Zudem hätte Temmen – wie schon bei seinen Bremen-Lexika – mehr Mühe ins | |
| Lektorat investieren sollen. Etwas irritierend ist es schon, wenn | |
| Oberbaurat Friedrich Lempe, von dem sehr viele der ausgewählten Fotografien | |
| stammen, unvermittelt den Namen des UN-Sonderbeauftragten für Sport | |
| annimmt. Oder wenn die im Text vorgenommene Datierung gleich des ersten | |
| präsentierten Fotos – der kutschenbestückte Marktplatz – von der auf dem | |
| Bild selbst vermerkten Jahreszahl begründungslos abweicht. | |
| Dabei ist gerade hier der Unterschied zwischen 1885 und 1888 substantiell: | |
| 1888 brannte die zwischen Rathaus und Liebfrauenkirche gelegene Alte Börse | |
| aus. Das Foto jedoch verewigt die gelungenen Proportionen ihres | |
| klassizistischen Baukörpers, an dessen Stelle heute nur Leere liegt. | |
| 28 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Henning Bleyl | |
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