# taz.de -- Vorauseilender Jahresrückblick 2013: Die vierte Dimension | |
> Im Jahr 2013 verschärfen sich in der Stadt die sozialen Gegensätze | |
> weiter, Nena macht endlich Karriere in der Politik und Olaf Scholz hebt | |
> ab | |
Bild: Fast schon schwebend: Olaf Scholz auf seiner Indienreise. | |
1. Januar: Beim traditionellen Neujahrsempfang im Rathaus zeigt sich | |
Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wie so oft seit seiner Indienreise im | |
vergangenen Oktober ausgesprochen gelöst. Auf die Frage, warum er so gute | |
Laune habe, sagt er nur: „Yoga.“ | |
2. Januar: Bei einer Wohnungsbesichtigung in Ottensen kommt es zu unschönen | |
Szenen, als sich ein Mann im Kaschmirmantel mit den Worten „Ich arbeite bei | |
einer Unternehmerberatung, und was macht ihr?“ an der 100 Meter langen | |
Schlange vorbeidrängelt und vom Makler sofort den Zuschlag bekommt. Die | |
Wartenden beschimpfen ihn als „Kapitalistenschwein“, er nennt sie | |
„Mediennutten“. Der Makler ruft die Polizei. | |
13. Februar: Tim Mälzer erklärt bei seiner Kochshow, er wolle einen Ableger | |
seiner „Bullerei“ in der Großen Bergstraße eröffnen – gleich schräg | |
gegenüber der Ikea-Baustelle in den Räumen eines Wettbüros. Aus Respekt | |
„vor den Nachbarn mit türkischem Migrationshintergrund“ werde die „Kleine | |
Bullerei“ kein Schweinefleisch auf der Karte haben. Die Immobilienpreise in | |
der Straße steigen um sieben Prozent. Einen Bio-Supermarkt und einen | |
Apple-Laden gibt es schon. | |
22. Februar: Beim traditionellen Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus | |
erstaunt Olaf Scholz die geladenen Gäste, als er nach dem zweiten Gang | |
(Flusskrebse) um Aufmerksamkeit bittet und mit feierlicher Miene seine Hand | |
über eine brennende Kerze hält. Obwohl die Hand anfängt zu qualmen, zeigt | |
Scholz keine Regung von Schmerz. Umstehende berichten, die Haut sei danach | |
völlig unverletzt gewesen. | |
18. März: Fotografen der Bild-Zeitung schießen ein unscharfes Foto von Olaf | |
Scholz, der in der Abenddämmerung am Hinterausgang des Rathauses in eine | |
dunkle Luxuslimousine Marke Bentley einsteigt. Hinter den abgedunkelten | |
Scheiben sind die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der sehr an den | |
indischen Guru Sri Sri erinnert. | |
20. März: Scholz fertigt eine Abordnung von insolventen Reedern aus den | |
Elbvororten mit den Worten ab: „Klage nicht den Fluss an, wenn du ins | |
Wasser fällst.“ | |
25. April: Scholz besucht die Privatschule von Nena in Rahlstedt und freut | |
sich über „diesen Ort, der Schülern und Schülerinnen den Raum gibt, zu | |
ihrem Selbst zu finden“. | |
26. April: Bei der Eröffnung der Internationalen Gartenschau in | |
Wilhelmsburg tritt Nena auf und singt ihren Hit „99 Luftballons“. Die | |
Sektenbeauftragte Ursula Caberta schäumt in der Hamburger Morgenpost: „Sie | |
kann weder singen, noch tut sie was für den Weltfrieden.“ Nena erklärt | |
daraufhin, sie werde Caberta eine große Flasche von ihrem Mondwasser | |
schicken und für sie meditieren. | |
27. April: In Ottensen macht der 100. Schuhladen auf. Die handgefertigten | |
Ziegenlederstiefel aus der Provence gibt es zum Schnäppchenpreis von 500 | |
Euro. | |
1. Mai: Bei der Eröffnung des 13. Evangelischen Kirchentages predigt nun | |
doch die Luther-Beauftragte der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, über | |
das Motto des Kirchentages „Soviel du brauchst“. „Viele Menschen glauben, | |
mit Geld sei alles getan, aber sie irren“, sagt Käßmann vor etwa 5.000 | |
Gläubigen im Hamburger Michel. „Was sie viel nötiger brauchen, ist Liebe | |
und Zuwendung.“ | |
13. Mai: Das weltgrößte Containerschiff, die „Perle von Seoul“, will auf | |
Einladung der Handelskammer den Hamburger Hafen anlaufen, obwohl der dafür | |
viel zu klein ist. Olaf Scholz verpflichtet den Senat, mit ihm zusammen „im | |
Rhythmus der Elbe zu atmen“, während das Schiff einläuft. Das Manöver | |
gelingt, die Handelskammer korrigiert die Prognosen für den Hafenumsatz | |
nach oben. | |
15. Juni: Bei der Eröffnung der „Kleinen Bullerei“ gegenüber von Ikea | |
schenkt Mälzer von ihm selbst auf Mallorca angebauten Rosé aus. Die | |
Porsche-Fahrer unter den Premierengästen bestaunen die Tätowierungen der | |
ehemaligen Mitarbeiter des Wettbüros, die Mälzer als Türsteher verpflichtet | |
hat. Als der Chef einer stadtbekannten Werbeagentur einem Zwei-Meter-Mann | |
zu nahe rückt und dieser leise „Verpiss dich, Digga“ raunzt, wird er sofort | |
zu einem Foto-Shooting verpflichtet. Sein vernarbter, mit einem Kopftuch | |
bedeckter Schädel wird das Markenzeichen der neuen Kampagne „Lebe wild“, | |
mit der für Designer-Anzüge geworben wird. | |
3. Juli: Das Abendblatt berichtet von einem „Aufstand der Senatoren“, die | |
seit einigen Wochen die Senatssitzungen im Lotussitz auf seidenen Kissen | |
absolvieren müssen. „Das hat mit sozialdemokratischen Traditionen nichts | |
mehr zu tun“, schimpft Schulsenator Ties Rabe. Er wird von Scholz durch | |
Nena ersetzt. | |
15. Juli: Rocko Schamoni kündigt an, St. Pauli zu verlassen. Bei | |
Durchschnittsmieten von zwölf Euro kalt pro Quadratmeter könne er ja gleich | |
nach München ziehen, sagt Schamoni. Kultursenatorin Barbara Kisseler | |
empfiehlt dem Musiker, „sich zu entspannen“ und schickt ihm ein Päckchen | |
Bachblütentee. | |
20. August: Bei nächtlichen Krawallen auf St. Pauli werden mehrere | |
Penthouse-Wohnungen gestürmt, die Bewohner können sich nur knapp in ihre | |
Tiefgaragen retten. Noch in derselben Nacht werden die Wohnungen von | |
Spezialeinheiten der Hamburger Polizei geräumt. Innensenator Michael | |
Neumann empfängt die Meldungen vom Verlauf der Aktion zu Hause, wo er sich | |
extra seine Uniform eines Oberstleutnants der Reserve übergezogen hat. | |
21. August: Die Hamburger Bürgerschaft beschließt mit den Stimmen aller | |
Parteien – außer der Linken – die Penthouse-Wohnungen auf St. Pauli unter | |
Bestandsschutz zu stellen. Sie gehörten zum „spezifischen Flair des | |
beliebten Szeneviertels“. | |
18. September: Sozialsenator Detlef Scheele kündigt an, Obdachlose mit | |
autogenem Training für den Winter vorzubereiten. „Kälte ist nur kalt, wenn | |
man sie fühlt“, sagt Scheele auf einer Pressekonferenz. Der braungebrannte | |
Senator hat sich in den Herbstferien einen Bart wachsen lassen, der ihm bis | |
zur Brust reicht. | |
20. Oktober: Die Senatskanzlei teilt mit, die frei werdenden Plätze des | |
ehemaligen Winternotprogramms vorrangig an Familien aus Altona, Eimsbüttel, | |
dem Schanzenviertel und St. Pauli zu vergeben. Wegen des großen Andrangs | |
sollen die Plätze vor dem Rathaus verlost werden. „Als Glücksfee konnte der | |
Senat Sylvie van der Vaart gewinnen“, so die Mitteilung der Senatskanzlei. | |
Das Abendblatt titelt: „Wohnungsproblem gelöst“. | |
21. Oktober: In einem offenen Brief beklagen sich die letzten | |
Villenbesitzer aus den Elbvororten über die neu hochgezogenen | |
Luxusappartments in ihrer Nachbarschaft. „Der über Generationen | |
weitergegebene Blick auf die Elbe wird so gefährdet“, schreiben Vertreter | |
des Hamburger Geldadels, die namentlich nicht genannt werden wollen, in | |
ihrem Brandbrief. „Wir rufen unseren neuen Nachbarn zu: Zieht doch nach | |
Altona!“ | |
25. Oktober: Oberbaudirektor Jörn Walter gibt bekannt, dass der Fernsehturm | |
nun doch ein Hotel werden soll. Ein chinesischer Investor habe angeboten, | |
den Turm in Form eines Glückskekses zu betreiben, auf dessen Außenhülle die | |
„Botschaft des Tages“ projiziert werden soll. „Das war ein Wunsch von ganz | |
oben“, sagt Walter und tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der | |
Stirn. | |
13. November: Rafael und Sylvie van der Vaart geben bekannt, dass sie nach | |
Altona umziehen wollen, ein geeignetes Loft ließen sie gerade umbauen. | |
„Diese ganzen Porsche Cayennes in Eppendorf sind mir einfach zu prollig“, | |
sagt Sylvie in einem Interview mit der Bild-Zeitung. | |
30. Dezember: Passanten beobachten durch die erleuchteten Fenster des | |
Rathauses einen Mann mit Stirnglatze und gefalteten Händen, der zirka einen | |
Meter über dem Boden zu schweben scheint. Ein Lächeln hat sich über sein | |
Gesicht gebreitet, er scheint zu summen. | |
31. Dezember: Bei der alljährlichen „Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns | |
zu Hamburg“ wird es von Seiten der Unternehmer endlich mal nur Lob für die | |
Hamburger Politik geben, berichtet das Abendblatt vorab. Der Präsens der | |
Handelskammer, Walter Scheuerl, sagt, Bürgermeister Scholz sei „als | |
Politiker eindeutig gereift.“ | |
30 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Daniel Wiese | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vorauseilender Jahresrückblick: So wird’s gewesen sein | |
Die Elbvertiefung wird beschlossen, die Rinne nach Helmut Schmidt benannt, | |
es gibt Mückenplage und Eispreisbremse: das taz-Orakel zum Jahr 2016. |