# taz.de -- Bildungsarbeit: Unterricht in Respekt und so | |
> In der Arbeit mit Schulverweigerern muss der Lehrer im Fluss bleiben. | |
> Sonst würde es ständig knallen. Manchmal hilft nur noch der Ausflug zum | |
> Kletterbunker | |
Bild: Ein Sozialpädagoge, der auch unterrichtet: Christian Junker. Rechts sein… | |
Der Unterricht beginnt mit einem Kampf ums Handy. Marvin weigert sich, es | |
wegzulegen. „Was soll denn das?“, fragt sein Lehrer Christian Junker, „du | |
kennst doch die Regeln, dann musst du es abgeben.“ „Mach ich nicht.“ „D… | |
kannst du gehen.“ „Dann geh ich halt.“ „Wenn du das so willst.“ Marvi… | |
nichts mehr – und bleibt. | |
Früher, in seiner alten Schule, wäre er wahrscheinlich aus dem | |
Klassenzimmer gestürmt und wochen- oder monatelang nicht wiedergekommen. | |
Weil er genau das getan hat, sitzt der 17-Jährige jetzt in einem | |
schmucklosen Neubau in Hemelingen, gemeinsam mit fünf anderen Jugendlichen, | |
„die seit längerem den Schulbesuch verweigern“. So heißt es in einer | |
Selbstdarstellung von „Kidz4u“, einem Kooperationsprojekt der | |
Bildungssenatorin und des Deutschen Roten Kreuz. Ein Lehrer und ein | |
Sozialpädagoge unterrichten gemeinsam höchstens acht Jungen, an zwei | |
Wochentagen arbeiten diese mit einem Tischlermeister in der Holzwerkstatt. | |
Derzeit sind sie zu sechst – und wegen des Besuchs der Reporterin alle | |
gekommen, sogar pünktlich. Eine überdurchschnittlich gute Quote, sagt | |
Stefan Wörpel, der Sozialpädagoge. Oft seien sie nur zu zweit oder zu dritt | |
– was gut ist, wenn man wie der Lehrer Christian Junker die Aufgabe hat, | |
ihnen etwas beizubringen. Prozentrechnung oder Groß- und Kleinschreibung. | |
Denn schließlich sollen sie nicht nur Zeit totschlagen, bis sie nicht mehr | |
schulpflichtig sind, sondern möglichst den Hauptschulabschluss machen. Es | |
gelingt nicht oft, sagt Stefan Wörpel, pro Jahr seien es zwei oder drei, | |
die den Abschluss packen. Im letzten Jahr waren zwei weitere so weit, dass | |
sie zurück an eine Regelschule gehen konnten, ein anderer fand dank des | |
dreiwöchigen Pflicht-Praktikums eine Lehrstelle. Manchmal ist der | |
Sozialpädagoge schon froh, wenn jemand im Anschluss einen Job bekommt oder | |
er ihn in eine weitere Fördermaßnahme vermitteln kann. Denn manche | |
verweigern auch diese Schule und schaffen es nicht, 75 Prozent der Zeit | |
anwesend zu sein. Oder stören den Unterricht so massiv, dass die Pädagogen | |
den Versuch für gescheitert erklären. | |
Denn die Probleme, wegen denen sie bei Kidz4u gelandet sind, verschwinden | |
nicht. Viele sind in Familien aufgewachsen, in denen jede Struktur fehlt. | |
„Wenn die bis in die Puppen daddeln, schaffen sie es nicht in die Schule“, | |
sagt Stefan Wörpel. Einige sind mit ihren Lehrern aneinandergeraten, auch | |
körperlich. Andere können sich nicht eine längere Zeit am Stück | |
konzentrieren. Und dann gibt es noch die Stillen, denen nicht das eigene | |
Sozialverhalten, sondern das ihrer ehemaligen Mitschüler im Weg stand. Sie | |
sind hier, weil sie gemobbt wurden. | |
Dass diese hoch explosive Mischung nicht jeden Tag hochgeht, liegt an den | |
Persönlichkeiten der Pädagogen und an den Voraussetzungen, unter denen sie | |
arbeiten. Im Unterschied zur normalen Schule haben sie die Zeit, sich um | |
den Einzelnen und sein Problem-Paket, das er in die Schule schleppt, zu | |
kümmern. „Es ist chilliger hier, an meiner alten Schule waren wir viel zu | |
viele Leute, da konnte der Lehrer gar nicht auf uns eingehen“, sagt | |
Zakaria, ein 17-Jähriger aus Tenever, der im Laufe des Vormittags immer | |
aggressiver wird. Auch gegen Christian Junker, den er offensichtlich mag | |
und der ihm die dringend benötigte Aufmerksamkeit schenkt. „Der bringt uns | |
Respekt bei und so“, sagt er anerkennend. Keine Stunde später pflaumt er | |
ihn an, er habe seinen Deutsch-Test „einfach so“ weggeschmissen. Christian | |
Junker muss einen Schritt zurück weichen, weil Zakaria ihm so nahe kommt. | |
Es gibt im Laufe des Vormittags viele solcher Situationen, in denen der | |
Lehrer versucht, „im Fluss zu bleiben“, wie er es nennt. Und nicht auf jede | |
Provokation eingeht. Wenn Zakaria ihn zum Beispiel anschnauzt, weil er ihn | |
mit einer Nachfrage unterbrochen hat. „Ey Christian, lass mich ausreden!“ | |
Zakaria steht vor seinem Jahresrückblick. Die Jungs haben aus Illustrierten | |
Fotos von Ereignissen aus dem Jahr 2012 ausgeschnitten, die sie für wichtig | |
halten, und auf ein Blatt Papier geklebt. Über solche Übungen erreicht | |
Christian Junker, dass seine Klasse länger als zehn Minuten bei einer Sache | |
bleibt. Im besten Fall können sich daraus Diskussionen ergeben. Doch | |
Zakaria hat keine Lust, darüber zu diskutieren, warum er die Aufregung über | |
den Film „Die Unschuld der Muslime“ ausgewählt hat. Und ob es die richtige | |
Reaktion ist, den Tod der Macher des Hetzstreifens zu fordern. Der Prophet | |
wird nicht beleidigt, basta. Christian Junker hakt ein, zwei Mal nach, gibt | |
dann auf. | |
Erfolgreicher ist seine Nachfrage nach den NSU-Taten, die in der Presse als | |
„Döner-Morde“ bezeichnet wurden. Maximilian, der wie ein zweiter Schüler | |
die ganze Zeit dadurch auffällt, dass er nicht versucht, mit Provokationen | |
aufzufallen, erklärt den anderen, wo das Problem liegt. „Das klingt, als | |
wären alle Türken Dönerfresser.“ Zakaria und Änis sind empört. | |
Jetzt soll Änis seine Collage vorstellen. Er hat ein Bild ausgewählt von | |
Orlando Cruz, dem ersten Boxer, der sich als schwul geoutet hat. Als Änis, | |
der den Mann in Boxer-Pose vorher einfach cool fand, das von seinem Lehrer | |
erfährt, reißt er das Bild wieder runter. | |
„Schwul“ ist im Klassenraum ein häufig benutztes Schimpfwort, genau wie | |
„Jude“. Christian Junker, der erst seit dem Sommer in dem Projekt | |
unterrichtet, hat es aufgegeben, jedes Mal was dazu zu sagen. Im Fluss | |
bleiben. Er würde sonst zu nichts anderem kommen. „Da fallen in drei Sätzen | |
fünf Beleidigungen: Frauen, Behinderte, Schwule.“ Zakaria etwa brüllt gerne | |
„Du Hurensohn, ich fick deine Mutter“ und das drei Mal hintereinander. | |
Wenn Stefan Wörpel und Christian Junker erklären sollen, wie sie in einer | |
solchen Atmosphäre Inhalte vermitteln sollen, sprechen sie von „kleinen | |
Erfolgen“ und „Erwartungen zurückschrauben“. Und dass sie manchmal einen | |
Schritt zurück gehen müssen, um zwei nach vorne zu machen. Wenn sie eine | |
Woche Sozialverhalten trainieren müssen, damit sie in der nächsten wieder | |
Unterricht machen können. Dann ist es eben sinnvoller, einen Ausflug zum | |
Kletterbunker zu machen, anstatt Mathe zu pauken. | |
Für den Lehrer im Team heißt die Arbeit, dass er sich eher als | |
Sozialpädagoge versteht, der auch unterrichtet. Vorher war er am Gymnasium. | |
„Da wurden alle Themenvorschläge angenommen, die fanden alles gut“, sagt | |
Christian Junker. „Hier bekommst du alles ungeschminkt gespiegelt, wenn die | |
dich oder deine Arbeit nicht gut finden.“ | |
Nicht immer, sagt Stefan Wörpel, gelinge es, alle zu integrieren, auf alle | |
einzugehen. „Manchmal musst du dich gegen den Einzelnen und für die Gruppe | |
entscheiden.“ An diesem Morgen geht ein Schüler schon 20 Minuten nach | |
Unterrichtsbeginn. Er wollte anders als Marvin sein Handy nicht weglegen. | |
1 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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