# taz.de -- Filmkomödie „Silver Linings“: Hemingway fliegt raus | |
> Ein Soziotop verzwickter Familienverhältnisse und verletzter Seelen: In | |
> „Silver Linings“ widmet sich Regisseur Russell den Neurosen der | |
> US-Mittelschicht. | |
Bild: Still aus „Silver Linings“: Pat (Bradley Cooper) mit seinem Vater Pat… | |
Hemingways „A Farewell to Arms“ fliegt im hohen Bogen aus dem Fenster. | |
Nachts um drei. Anlass für solch grobe Literaturkritik: Wie kann der Mann | |
seinen beiden Hauptfiguren nach all den Entbehrungen am Ende das Happy End | |
verweigern? Warum muss die Frau sterben, warum können die beiden nicht | |
einfach miteinander tanzen? | |
Der da so erbost über Kanonliteratur zetert, ist Pat (Bradley Cooper). Die | |
Scheiben, durch die das Buch spätnachts flog, gehören seinen Eltern Pat Sr. | |
(Robert De Niro) und Dolores (Jacki Weaver), die sich um diese Uhrzeit auch | |
Besseres vorstellen könnten als wutschnaubende Textinterpretationen im | |
eigenen Schlafzimmer. | |
Diplomatisch ausgedrückt hat Pat ein Problem mit seinem Gefühlshaushalt, | |
medizinisch ausgedrückt eine bipolare Störung, die ihm neben einem | |
Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik eine gescheiterte Ehe samt | |
Gerichtsauflage zur Distanzwahrung eingebrockt hat und einen Wiedereinzug | |
bei den Eltern – von denen der Va- ter selbst ein hochabergläubisches bis | |
schwer neurotisches Zwangsverhältnis zu seiner Lieblingsmannschaft, den | |
Eagles, pflegt. | |
Ähnlich diplomatisch ausgedrückt ist Pat gewillt, sein Leben wieder ins Lot | |
zu bringen. Enthusiasmus und Zuversicht kennen keine Grenzen, insbesondere | |
was seine Exfrau betrifft, mit der eine wunderbare Ehe zu führen er noch | |
immer fest überzeugt ist – entgegen allen Beteuerungen, in diese Richtung | |
tunlichst keine Ambitionen mehr an den Tag zu legen. | |
## Inszenierung zwischen Indie- und Arthouse-Film | |
In Tiffany (Jennifer Lawrence) findet Pat eine Seelenverwandte, zumindest | |
was das Nervenkostüm betrifft: Verwitwet und ihrerseits hochneurotisch, | |
soll sie für Pat als Scharnier zu seiner Gattin dienen, um dann doch – über | |
viele Umwege und Verletztheiten – ein ganz eigener Anker zu werden. | |
Man staunt, was für eine Plot- und Weltmaschine „Silver Linings“ ist – | |
dichter und mit längerem Atem wurde vom Neurosenhaushalt der amerikanischen | |
Mittelklasse zuletzt kaum erzählt: Ein ganzes Soziotop an Familien, | |
Lebensumständen, sich neu ergebenden Konstellationen und Relationen wird | |
hier, wie es scheint, ganz mühelos aufgestellt. | |
„Silver Linings“ streift in betont schmuckloser, aber effizienter | |
Inszenierung den Indie- und den Arthouse-Film, ist Komödie, dann Drama, | |
zuweilen modisch skurril, aber dann doch immer ein Film, der seine Figuren, | |
allen durch Fenster fliegenden Hemingways zum Trotz, doch nie als | |
Marottenständer preisgibt, sondern unbedingt ernst nimmt. Kann ein Film | |
eine schwer neurotische Episode und einen fluffigen „Gemeinsam packen | |
wir’s!“-Showdown, wie es ihn seit den 1980ern nicht mehr schöner gab, im | |
Ernst unter einen Hut bringen? | |
Er kann, sofern ein Regisseur mit dem Gespür für das eine wie das andere an | |
die Sache geht, der keine Scheu vor den Dynamiken einer solchen Geschichte | |
zeigt: David O. Russell ist so einer. In Filmen wie „I Heart Huckabees“ und | |
„The Fighter“ lotete er bereits vor unwahrscheinlichen Kulissen und mit | |
unwahrscheinlichen Mitteln die Tiefen verletzter Seelen und verzwickter | |
Familiengeschichten aus. | |
Es sind beides Filme – und „Silver Linings“ fügt sich problemlos in diese | |
Reihe ein –, die vor allem von einer faszinierenden Begeisterung für das | |
Erzählen getragen sind, für das Erzählen von Menschen und ihren | |
Lebensumständen, ihren Krisen und Macken, von Enttäuschungen und Zielen, | |
den Wegen und Umwegen, die dorthin führen. So wie in „The Fighter“ | |
Christian Bale und Mark Wahlberg durch die Straßen ihres Viertels laufen, | |
bald nach rechts, bald nach links High Five geben, so joggt auch Pat fast | |
manisch durch das Mittelklasse-Viertel seiner Eltern – in beidem zeigt sich | |
vielleicht David O. Russells erkundendes Interesse an der Welt. | |
Und am Ende wird dann doch getanzt, reichlich. | |
2 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Thomas Groh | |
## TAGS | |
Mittelschicht | |
Kino | |
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