Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fussballkultur: Kater verbindet
> Drei Briten widmen sich mit dem englischsprachigen Fanzine "No Dice" dem
> unterklassigen Fußball in Berlin.
Bild: Fan-Vertreter der vier oberen deutschen Fußball-Ligen treffen sich bei U…
In einer Frage sind sich die drei Freunde dann doch nicht einig. Sex oder
Liebe – womit ist die Fußballleidenschaft eher zu vergleichen? „Es ist ja
auch manchmal sehr verletzend“, sagt Jacob Sweetman und fügt nach kurzem
Nachdenken hinzu: „Ich mag die visuellen Momente beim Fußball, die
Explosionen.“ Während Sweetman sich die Eruptionen und Explosionen des
ledernen Vergnügens visuell ausmalt, sagt sein Mitstreiter Stephen Glennon:
„Fußball ist dreckig und schmutzig wie schneller Sex.“
Schließlich ergreift der Lebens- und Fußballerfahrenste in der Runde das
Wort: „Es ist romantische Liebe“, erklärt Ian Stenhouse, 51. Er sagt das
mit solcher Wehmut in der Stimme, dass man ihm diese Einschätzung
unweigerlich abnimmt. Sweetman lässt das sacken und ergänzt: „Fußball ist
halt wie das Leben: Du suchst die romantische Liebe, wartest auf das
nächste große Ereignis, aber dann endest du bei einem 0:0 im Regen.“
Dieser Hang zum Rührseligen passt hervorragend zu den Machern des Magazins
No Dice, die gerade bei einem Hallenturnier der Kreisliga A in der
Sporthalle Schöneberg beieinandersitzen. Denn in ihrem Fußballmagazin
schreiben sie tragische Geschichten rund um das runde Leder genauso auf wie
die faszinierenden Momente. Das Besondere ist, dass es sich ausschließlich
um Geschichten aus dem Berliner Fußball dreht, die von zwei Briten
(Stenhouse und Sweetman) und einem Iren (Glennon) in deren Muttersprache
erzählt werden. Der Berliner Sebastian Schmelzer unterstützt die drei bei
der PR-Arbeit.
Ein englischsprachiges Fußballmagazin nur für den Berliner Raum – viele
hielten das für eine verrückte Idee, als die drei das Projekt Mitte 2011
starteten: „Erst haben uns alle gesagt, das sei verschwendete Zeit“, sagt
Sweetman, „jetzt sehen es viele anders.“ Im Dezember kam die fünfte Ausgabe
auf den Markt. Die Fußball-Postille, die im A4-Format, vollfarbig und
vierteljährlich erscheint, verbindet Fotojournalismus – seitenweise
Bilderstrecken sind keine Seltenheit – mit Geschichten, die sich vor allem
im Amateurfußball zutragen. Sweetmans Frau steuert Illustrationen bei. Den
Namen („Ohne Würfel“) des Magazins ersann man in Anlehnung an einen Spruch
Lukas Podolskis: „Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“
Das Heft erscheint gerade mal in 200er-Auflage. „Ein Liebhaberstück“, sagt
Stenhouse. Die Auflage könnte bald steigern: Auf Facebook haben die Herren
aus dem Mutterland des Fußballs bereits 1.000 Fans, sie bloggen auf ihrer
Website auch regelmäßig zum fußballerischen Geschehen in ihrer Wahlheimat.
„Die Fußballkultur in Berlin ist wie die Stadt auch: Sie erzählt ständig
spannende Geschichten. Berlin ist die faszinierendste Stadt Europas“, sagt
Stenhouse, der vier Jahre in London lebte, bevor er an die Spree kam. „Ein
Projekt wie No Dice hätte es dort nicht gegeben, das hätten wir in London
zeitlich und finanziell gar nicht leisten können.“ Mitstreiter Glennon, 29,
findet insbesondere den regionalen Fußball in Deutschland spannender: „Die
Ligen splitten sich hier von einem höheren Niveau an regional auf, anders
als in England.“
Stenhouse findet noch ein Phänomen vor, das er von der Insel nicht kennt:
„In Deutschland und besonders in Berlin haben der Fußball und die Fankultur
eine viel größere politische Dimension“, sagt er. „Während das Fansein in
England eine religiöse oder quasireligiöse Note hat, ist es hier
zeitgemäßer. Jeder Klub in Berlin – sei es der BFC Dynamo, Türkiyemspor
oder Union – repräsentiert irgendetwas. Wir fangen innerhalb und außerhalb
der Stadien Eindrücke ein und schauen, inwieweit das Bild nach außen der
Wahrheit entspricht.“
Der glatzköpfige Fußballliebhaber muss wissen, dass der Berliner Fußball
auf einfache Weise kaum zu fassen ist: Er fotografiert für das Magazin und
ist mindestens jeden zweiten Tag auf einem anderen Fußballplatz unterwegs.
In England hat Stenhouse als Kunstlehrer gearbeitet, bis er frühzeitig
pensioniert wurde. Seit zwei Jahren ist er in Berlin und widmet sich der
Fotografie.
In der aktuellen Ausgabe erzählt ein Betriebsliga-Spieler über seine
Spielklasse, die Geschichte Berliner Stadien wird beleuchtet, der Siegeszug
des BSV Hürtürkel in der Berlin-Liga spannend erzählt. Sweetman: „Wenn
jemand einen Baum in einem Wald fällt, ist es dasselbe, wie wenn jemand ein
Tor in fuckin’ Pankow schießt – niemand nimmt Kenntnis davon. Aber: Für d…
Menschen, der das Tor geschossen hat, ist das ein verdammt wichtiger
Augenblick!“
Die drei Macher sind nicht gegen den kommerziellen Fußball, genießen aber
die Nähe, die Direktheit in den unteren Ligen. „Wenn du in der sechsten
Liga jemanden spielen siehst, der am Sonntag einen Kater hat wie du selbst
auch, dann fühlst du dich dem Fußball dort zugehörig“, sagt Glennon. Er kam
nach Berlin, um Spiele der Weltmeisterschaft 2006 zu sehen – und blieb
gleich hier. Zuvor lebte er in Genua. Zur WM reiste er von dort aus mit dem
Rad an, erzählen seine Kollegen.
Gedacht war No Dice zunächst als internationales Fanzine, nun ist die
Leserschaft aber zum Großteil deutsch. Die drei genießen ihre
publizistische Freiheit: Sie müssen mit dem Magazin nichts erwirtschaften,
nur die Unkosten einspielen. Sweetman, 34, verdient sein Geld als Autor und
ist zudem Schlagzeuger einer Band. Sein nächstes Buchprojekt: die
Geschichte des Berliner Fußballs. Glennon schreibt gerade als Ghostwriter
eine Biografie für einen englischen Profispieler und ist Übersetzer.
## ■ 5 Euro, Download: 1 Euro oder Spende
20 Jan 2013
## AUTOREN
Jens Uthoff
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.