# taz.de -- Winterritt: Carlo hat Grips | |
> Im Energiesparmodus durch das tief verschneite, verlassene Schweizer | |
> S-charltal. Ohne Stress und Schweiß auf freundlichen Wallachen. | |
Bild: Kein Tier trabt zum Spaß durch den Tiefschnee. | |
Unten rechts in der Schweiz, im südöstlichsten Zipfel des Engadins, | |
befindet sich das S-charltal. Am Eingang des engen Seitentals lerne ich | |
Carlo kennen. Carlo ist muskulös, durchtrainiert, im besten Alter. | |
Der Freibergerwallach hat ein hellbraunes Fell und die typischen | |
Eigenschaften dieser uralten Schweizer Pferderasse: einen ausgeglichenen, | |
ruhigen Charakter, geeignet für Kinder und Anfänger. „Nicht du | |
entscheidest, das Pferd wählt dich aus“, sagt Sandra Igl. Die blonde | |
Enddreißigerin aus Garmisch ist an diesem Wintertag meine Reitlehrerin. | |
Genau verstehe ich nicht, was sie meint, Pferde sind für mich unbekannte | |
Wesen. Am liebsten würde ich gleich davontraben. | |
Aber bevor wir zum Ritt in das S-charltal aufbrechen, müssen Carlo und | |
Colette, so heißt die Stute von Sandra, noch gestriegelt werden. „Das | |
schafft eine Vertrauensbasis“, sagt Sandra. Dann wuchten wir schwere | |
lederne Sättel auf die breiten Pferderücken. An einer Art Rückenlehne sowie | |
einem auffälligen Horn am vorderen Ende sind sie leicht als Westernsättel | |
zu erkennen. Das Horn diente den Cowboys ursprünglich zum Befestigen des | |
Lassos, nachdem sie damit ein Rind eingefangen hatten. Heute würden | |
Westernsättel gerne verwendet, damit sich der Ungeübte auch mal vorne | |
festhalten könne. | |
## Mehrere Schichten Fleece-Pullover | |
Es geht los. Im Schritttempo kommen wir an einer überdimensionalen | |
hölzernen Pferdeskulptur vorbei, einem Restaurant, an dem ein Schild mit | |
der Aufschrift „Saloon“ hängt, dann passieren wir eine eingezäunte Wiese, | |
wo eine Pferdeherde mit hängenden Köpfen im Schnee herumsteht. „Sie haben | |
jetzt auf Energiesparmodus geschaltet, kein Tier stapft zum Vergnügen durch | |
den Tiefschnee“, sagt Sandra und zeigt auf die matschigen Trampelpfade, die | |
von der Herde in das glitzernde Weiß gezeichnet wurden. Wir Menschen sind | |
eingepackt in mehrere Schichten Fleece-Pullover, darüber eine Daunenjacke, | |
die Hände stecken in Wollfäustlingen, die Füße in Gummistiefeln mit | |
Filzeinlage. Minus 11 Grad. Es sei gut, dass es kalt wurde, „endlich | |
Schnee“, lächelt Sandra. | |
Den Freibergern machen die tiefen Temperaturen nichts aus. Schnaubend, vor | |
den Nüstern Atemwolken, stapfen sie einen steilen, steinigen Waldsteig | |
empor. Ab und zu, wenn ihre Hufe auf einen Stein treten, hört man ein | |
metallisches Klicken. Damit Colette und Carlo an vereisten Stellen nicht | |
ausrutschen, tragen sie „Winterpneu“: Eisen mit Stahlstiften, zwischen den | |
Eisen Gummireifen, sogenannte Grips, die verhindern, dass sich | |
Schneeklumpen bilden. Gesäumt wird der Waldweg von dick gepolsterten | |
Fichten. Wenn Colette und Carlo unter einem beladenen Ast durchschlüpfen, | |
rieselt uns das kalte Weiß unter den Jackenkragen. Bald haben sich kleine | |
Eiszapfen in den Mähnen und zwischen den flauschigen Pferdeohren gebildet. | |
Das S-charltal gehört zu den unberührtesten Hochtälern der Schweiz. Im | |
Winter leben in dem winzigen gleichnamigen Weiler am Talschluss nur noch | |
zwei Menschen: der Wirt des einzigen geöffneten Gasthofes sowie eine | |
betagte Klosterfrau. Wir passieren einen Schlagbaum und benutzen nun den | |
Fahrweg, ab hier ist das Tal im Winter autofrei. Nach gut einer Stunde | |
kommt uns ein Schlitten mit vermummten Passagieren entgegen. Auf dem | |
Kutschbock sitzt Men Juon, der bei jeder Fahrt den Gasthof in S-charl mit | |
Lebensmitteln beliefert. Dem Mittvierziger mit verschmitztem Grinsen gehört | |
der Reitstall am Eingang des Tals, unser Ausgangspunkt. | |
## Westernreiten hat etwas Meditatives | |
Vor 22 Jahren übernahm Men den Hof San Jon von seinem Vater, der damals | |
Rinder züchtete. Heute stehen 70 Pferde auf seiner Koppel. An Carlos | |
Geschaukel habe ich mich inzwischen gewöhnt. Anfangs gab mir Sandra Tipps, | |
wie ich den Wallach durch gezielte Impulse mit den Zügeln, durch sanften | |
Schenkeldruck oder aufmunternde Worte im Griff habe. Sicher manövrierte ich | |
den Freiberger an diversen Abgründen vorbei. Dabei behielt ich, man weiß ja | |
nie, den Knauf stets im Auge. Doch nun habe ich das Gefühl, dass Carlo auch | |
ohne mein Zutun alles richtig macht. | |
Westernreiten hat etwas Meditatives, finde ich. Auf Schneeschuhen oder | |
Tourenskiern würde man arg ins Schwitzen kommen. Die Muße, mit der ich auf | |
die herrliche Winterlandschaft blicke, wäre bei körperlicher Belastung | |
dahin. | |
Die Kulissen haben sich verändert. Ging es noch am Beginn unserer Tour | |
durch dichten Wald, klammern sich an den steilen Felswänden nur mehr | |
vereinzelte knorrige Kiefern fest. Nach und nach weitet sich das von | |
zackigen Dreitausenderkolossen überragte Tal. Nur im Süden zeichnen sich | |
zwischen den Gipfeln einige tiefe Einkerbungen ab. Über die Pässe, die dort | |
in das Münstertal und nach Südtirol führen, soll im Mittelalter Karl der | |
Große in Richtung Rom gezogen sein. Auch der Name des Tals, erzählt Sandra | |
Igl, geht möglicherweise auf den Frankenherrscher zurück. | |
## Du riechst nach Pferd | |
Sicher ist, dass im vergangenen Sommer M 13 das S-charltal besuchte. M 13 | |
stammt aus Italien und hat das Zeug zum Problembären. Seit er oberhalb von | |
S-charl in einer Nacht 13 Schafe tötete und wenig später in ein Ferienhaus | |
einbrach, um an die Vorräte zu gelangen, reißt die Serie seiner Missetaten | |
nicht ab. Sandra Igl ist dem Bären begegnet. „Ich hielt ihn zuerst für | |
einen Hund, dann kam er direkt auf mich zu, mein Herz schlug bis zum Hals“, | |
sagt Sandra. An einer Wegbiegung zeigt sie gelassen die Stelle, wo M 13 von | |
einem Jäger gefilmt wurde. Als frischgebackener Westernreiter mit Ehre im | |
Leib ist mir meine Aufgabe bewusst, im Falle eines Zusammentreffens mit dem | |
Bären unseren Trupp bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. | |
Als wir Stunden später zurück beim Reiterhof sind, leuchtet am Himmel die | |
Mondsichel. Colette und Carlo erhalten jeder ein großes Stück Brot. Ich | |
bekomme zu Hause eine andere Belohnung. „Du riechst nach Pferd“, sagt dort | |
der erste Mensch, der mir nahe genug kommt – was ich als liebevolles | |
Kompliment verstehe. | |
26 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Helmut Luther | |
## TAGS | |
Reiseland Schweiz | |
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