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# taz.de -- Gedenken an Christian Semler: Wenn wir einmal alt sind …
> … ja, was dann? Über diese Frage schrieb Christian Semler im März 2006.
> Jetzt ist er gestorben. Zur Erinnerung an ihn hier noch einmal seine
> Antwort.
Bild: Wo bleibt die Idee der Selbstverwirklichung im Lebenszyklus?
Ja, mach nur einen Plan,
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch 'nen zweiten Plan
Geh'n tun sie beide nicht
(Bertolt Brecht, „Dreigroschenoper“)
Machen wir Lebenspläne? Eine Umfrage unter den Kollegen der taz fördert
ernüchternde Ergebnisse zutage. Nicht mal die wichtigsten Lebensplanziele
stehen fest. Dabei sollen wir doch nach der herrschenden Ideologie
lebenslange Unternehmer unserer selbst sein, was ein sorgfältiges,
gleichzeitig flexibles, aber auch planerisch zielstrebiges Auftreten auf
dem Lebenschancen-Markt voraussetzt. Mittelfristige Planung ist schon die
Ausnahme.
Kürzlich eröffnete mir ein jüngerer Kollege: „Ich wollte mit 35 ein
Eigenheim, eine Ehefrau und einen BMW. Jetzt bin ich 35, habe eine
Mietwohnung, eine Geliebte und einen Golf. Das ist doch wirklich kein
schlechtes Ergebnis.“ In der Tat! Aber wo bleibt die Idee der
Selbstverwirklichung im Lebenszyklus, der wankelmütigen Fortuna mutig
abgetrotzt? Sie war doch schließlich mal das biografische Idealbild -
zumindest der akademischen Mittelschichten.
##
Alles auf der Strecke geblieben. Auch bei Arbeitsverhältnissen, die nicht
so sehr in der „Zone der Prekarität“ angesiedelt sind wie bei der taz,
greift Lebensplanlosigkeit um sich.
Aber war das jemals anders, vor allem wenn man über den
Mittelschichten-Tellerrand blickt? Für das Gros der Lohnabhängigen waren
Prekarität und die regelmäßige Zerstörung aller vorgefassten individuellen
Pläne stets der Normalfall gewesen. Ein anderes Bild ergibt sich nur mit
Blick auf die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Mit der
wirtschaftlichen Rekonstruktion nach 1945 entstand in der Bundesrepublik so
etwas wie relative Lebensplanungssicherheit.
Sie war ebenso das Resultat der langen Konjunktur wie das Produkt von
Klassenkompromissen. Der Sozialstaat des rheinischen Kapitalismus basierte
seitens der Machteliten auf der Einsicht, dass die Einbeziehung der
Lohnabhängigen in den demokratischen Staat, ihre „Systemintegration",
ausgreifende, durch den Staat garantierte kollektive Sicherungen
voraussetzte.
Lebensplanung sollte sich an diesen Garantien ausrichten, wurde nicht auf
die Individuen abgewälzt. Die Reform von 1957, die die dynamisierte Rente
begründete, galt für lange als sichtbarstes Wegzeichen dieser Entwicklung.
Und Norbert Blüms Ausruf als Arbeitsminister der Kohl-Regierung ("Die Rente
ist sicher!") war nichts als eine Beschwörungsformel, mittels deren die
soziale Integration fortgesetzt werden sollte.
Das ist alles Geschichte. In dem Maße, wie Unsicherheit sich in allen
Lebensverhältnissen einnistet, grassiert die Ideologie des „Selbst“, dem in
allen Lebenslagen Optionen offen stehen. Ergreift der „Selbst“-Ständige sie
nicht, so zeigt sich darin nichts als persönlich zu verantwortende
Schwäche, Charakterschwäche, Bildungsschwäche. Die „Sorge um sich selbst“
betrifft gerade jene Bereiche, in die der Sozialstaat die Pflöcke
einrammte, an denen sich Lebensplanung ausrichten sollte.
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Es geht wohlgemerkt nicht darum, dass Versicherungssysteme, etwa mit
Rücksicht auf die Demografie, sich veränderten Bedingungen anpassen
müssten. Sondern darum, dass jedwede Verlässlichkeit sich auflöst. Gut, da
war Hartz IV, schrecklich genug. Aber was wird uns die Kette der
Nach-„Besserungen“ bringen, mit der Kürzung des Arbeitslosengeldes II für
Jugendliche unter 25 als jüngstem Beispiel?
Alles rutscht. Müntefering als Arbeitsminister lanciert den Vorstoß, die im
Koalitionsvertrag vereinbarte Rente mit 67 so vorzuziehen, dass schon die
heute 36-Jährigen bis zum Alter von 67 arbeiten müssen. Hier entspricht die
Form der Vorgehensweise dem Inhalt der Botschaft. Der Vorstoß wurde über
die Medien lanciert. Es folgte eine bis heute nicht abgeschlossene Debatte
darüber, ob für schwer Arbeitende nicht eine Variation der Invalidenrente
wieder aufgelegt werden sollte.
Der Koalitionsvertrag zur Erhöhung des Rentenalters bezeichnete also
mitnichten einen neuen Eckpunkt, an dem sich so etwas wie Lebensplanung
hätte orientieren können. Sondern der Vorhang wurde aufgezogen für ein
neues Schauspiel der Verunsicherung - weitere Akte werden folgen.
Nach dem Eintrittsalter mit 67 - vielleicht einer vorgeblichen
Notwendigkeit folgend, die man leider nicht früher prognostizierte - die
Rente mit 69? Noch höhere Abschläge beim vorgezogenen Ruhestand? Nullrunden
über Jahrzehnte, vermehrte Besteuerung der Renten, Änderungen im
Nachhaltigkeits-Faktor? Weitere Zumutungen, von denen wir noch nichts
ahnen? Nichts gegen öffentliche Kontroversen, aber diese ganze Methode im
Umgang mit den Grundpfeilern staatlicher Sicherheitsgewährung hat eine
verzweifelte Ähnlichkeit mit dem "Trial and Error"-Prinzip. Nur dass Karl
Raimund Popper dieses Prinzip für Zwecke des wissenschaftlichen Experiments
entwickelte. Es handelt sich also beim Vorgehen der politischen Klasse um
Versuche am lebenden Menschenobjekt.
##
Aber entspricht diese Methode der Verflüssigung von Gewissheiten nicht
einem Mentalitätswandel in der Mehrheitsgesellschaft? Werden wir nicht
Zeuge eines realen Prozesses der „Individualisierung“, innerhalb dessen die
Bewältigung von Lebensrisiken von den Einzelnen als Privatsache akzeptiert
wird, sodass der Staat nur nachvollzieht, was sich in der Gesellschaft
schon durchgesetzt hat?
Folgt man der aufblühenden Praxis jener Unternehmenszweige, die sich der
Bearbeitung der RentnerInnen zuwenden, so kann man diese Frage nur mit
einem entschiedenen „Ja!“ beantworten. Dort treffen wir auf ein Himmelreich
der Optionen, von der Planung des „goldenen“ Lebensabschnitts, der sich den
"Senioren" eröffnet. Denn eigentlich sind die Senioren nicht alt, es sind
die „jungen Alten“, die „aktiven Junggebliebenen“, die Angehörigen des
„Best Age“, oder kurz die „50 plus“.
Und ist von den 68ern, die jetzt in Rente gehen, nicht ein planvolles,
natürlich kritisches Konsumverhalten zu erwarten, ein Pendelspiel zwischen
diversen europäischen Domizilen mit dem sicheren Anker im angestammten
linken Milieu?
Die Sache mit der Lebensplanung im Alter hat nur einen Haken: Es handelt
sich hier um Leute, die im Branchenjargon Woopies (well-off-older-people)
oder auch Grampies (growing-retired-active-monied-people) genannt werden.
Aber auch hier, bei den ergrauten wie den noch mitten im Erwerbsleben
werkelnden Mittelständlern, breitet sich Angst aus. Selbst in scheinbar
bombensicheren Beschäftigungsverhältnissen grassiert das Gefühl, der
erreichte Wohlstand sei prekär und der Absturz könne einen jederzeit
ereilen.
Selbst das Manager-Magazin, wo doch Zuversicht Redaktionspflicht ist,
verbreitet sich gefühlvoll über die jähe Entlassung leitender Angestellter.
All dies spricht gegen die These von der Freude an Risiko und
Verantwortung. Die Bastelbiografie mit dem postmodernen Ethos vom ständigen
Abbruch und Neuanfang gilt als Schreckbild, keineswegs als Ideal der
Persönlichkeitsentwicklung.
Wird Zeit, dieses ganze Gerede vom ebenso notwendigen wie begrüßenswerten
Ende staatlicher Sicherungsgewährung wieder unter dem Gesichtspunkt zu
sehen, was eine Gesellschaft zusammenhält und wodurch sie ihre
Bindungskraft verliert.
Wenn der Staat systematisch die Pfeiler untergräbt, auf denen Lebensplanung
ruhte, wird er nicht neuen individuellen Wagemut ernten – sondern
Verzweiflung. Mit den aus der Geschichte Deutschlands bekannten Folgen.
13 Feb 2013
## AUTOREN
Christian Semler
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