# taz.de -- Jugoslawischer Avantgardefilm : Die Schwarze Welle | |
> Ein Schwerpunkt des diesjährigen goEast-Festival in Wiesbaden ist das | |
> Kino im sozialistischen Jugoslawien der 60er Jahre. | |
Bild: Szene aus dem 1970 erstandenen Film „Roter Weizen“ von Živojin Pavlo… | |
Als die Zeitung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Borba, 1969 | |
erstmals den Begriff „Schwarze Welle“ für eine besonders düstere Strömung | |
des neuen jugoslawischen Films verwendete, diente er als Kampfbegriff. Den | |
Regisseuren wurde vorgeworfen, die sozialistische Wirklichkeit zu | |
verzerren. | |
Ihre Arbeit wurde erschwert. Die Namensgebung war bereits der Anfang vom | |
Ende der Schwarzen Welle, wie auch das einer liberalen Kulturpolitik, die | |
eine ungeheure Vielfalt avantgardistischer Filmproduktionen ermöglicht | |
hatte. | |
Vom vergangenen Wochenende bis morgen findet in Wiesbaden das 13. | |
goEast-Festivals des mittel- und osteuropäischen Films statt. Innerhalb des | |
Symposiums „Bright Black Frames“ widmete man sich am Wochenende den | |
Facetten des neuen jugoslawischen Films zwischen 1963 und 1973. | |
Wissenschaftler, Künstler und Zeitzeugen diskutierten unter der Leitung der | |
Filmwissenschaftler Gal Kirn und Vedrana Madzar über die ästhetischen und | |
politischen Besonderheiten dieses „ausradierten Kinos“, wie es der | |
slowenische Filmwissenschaftler Andrej Sprah nannte. | |
Die Filme der Schwarzen Welle findet man heute in slowenischen, bosnischen, | |
kroatischen und serbischen Archiven. Umso interessanter ist es, neben den | |
Produktionen international bekannter Regisseure wie Dusan Makavejev oder | |
Zelimir Zilnik auch die der Unbekannten zu sehen. | |
## Misstände im sozialistischen Alltag | |
Was genau die Schwarze Welle aus dem modernen Film heraushebt, blieb aber | |
auch auf dem Symposium strittig. Gemeinsam ist den Filmen beinahe nur das | |
einst stigmatisierende Label „schwarz“. Ansonsten zeigen die Filme eine | |
ungeheure Varianz der Stile. Vor allem im Dokudrama und im Avantgardefilm | |
sprengten sie seinerzeit die Grenzen der Genres und Sujets. | |
Gebrochen wurde aber vor allem mit politischen Konventionen: Gegenstand der | |
Schwarzen Welle waren die Missstände im sozialistischen Alltag. | |
Voraussetzung für solche Filmproduktionen war Jugoslawiens Sonderweg | |
zwischen Plan- und Markwirtschaft, den der Staat nach dem Bruch mit dem | |
Stalinismus einschlug. | |
Die Öffnung in Richtung Westen ermöglichte eine außergewöhnliche | |
künstlerische Freiheit. In den Sechzigern war die Kinematografie zudem | |
völlig dezentralisiert worden – ein paradiesischer Zustand für Filmemacher. | |
„In nur zehn Jahren entstand ein vollkommen neues Kino“, erinnert sich der | |
Filmkritiker Boris Andelic euphorisch an die Anfänge. Heute sieht er die | |
Schwarze Welle eher kritisch. Zunächst erscheint es paradox, dass dann, als | |
das Selbstbewusstsein des neuen Staates seinen Höhepunkt erreicht hatte, | |
ein Filmgenre populär wurde, das radikale Kritik an den herrschenden | |
Verhältnissen übte. | |
„Der neue jugoslawische Film reflektierte diesen Moment“, erklärte Zelimir | |
Zilnik. Wie der Regisseur erinnern sich auch andere Zeitzeugen an die | |
Enttäuschung der ersten Nachkriegsgeneration über den Stillstand im Aufbau | |
des Sozialismus. Folge: ein negativer Exzess in der Wahl der Formen und | |
Themen. Die neue Autorengeneration sagte sich vom sozialistischen Realismus | |
los und wandte sich der Nouvelle Vague und dem Neorealismo zu. | |
## An Stelle von Entschlossenheit tritt Unsicherheit | |
Die Schwarze Welle bedeutete das Ende des Happy Ends – nicht nur im Film. | |
„Tri/Drei“ (1965) von Aleksandar Petrovic zeigt diesen Bruch mit den | |
Grundpfeilern der jugoslawischen Ideologie: ein psychologisches | |
Kriegstriptychon, surrealistisch und mit unerträglich schrillem Sound, das | |
dem Partisanen Milos Bojanic in drei Erzählungen durch den Krieg folgt. | |
Da stirbt ein Unschuldiger durch eine aufgehetzte Masse, er selbst überlebt | |
die Nazis, dann ist er für die Erschießung einer Kollaborateurin | |
verantwortlich. An die Stelle von Entschlossenheit tritt Unsicherheit. | |
Schuld und Unschuld verschwimmen. Der Film versperrt sich der „Botschaft“ | |
und konterkariert so das Bild vom tadellosen Partisanen, dem bis dahin | |
vorherrschenden Filmhelden. An seiner statt bietet der neue jugoslawische | |
Film ein Kaleidoskop fragwürdiger Charaktere auf. Die jungen Regisseure | |
leuchten die Kehrseite der Gesellschaft aus: Gewalt, Armut, Aberglauben, | |
Pornografie. | |
In „Rdece klasije/Roter Weizen“ (1970) von Zivojin Pavlovic, einem | |
Klassiker der Schwarzen Welle, wird in drastischer Bildsprache die | |
gewaltsame Kollektivierung beschrieben, genauso wie die alltägliche Gewalt. | |
In den Diskussionen darüber merkten vor allem die jungen Wissenschaftler | |
immer wieder an, dass die Darstellung von Vergewaltigung und Missbrauch | |
einen Rückschritt in der Repräsentation der Frau darstellten. | |
Eine Sichtweise, die auf diesem Feld tatsächlich neu ist. Betrachtet man | |
die Bandbreite der Kritik und die harschen Reaktionen, die sie hervorrief, | |
tat die Schwarze Welle einiges für die Enttabuisierung des sozialistischen | |
Alltags. | |
## Keine antikommunistische Kritik | |
Trotzdem wäre es falsch, die Kritik einfach antitotalitär oder gar | |
antikommunistisch zu lesen, wie es heute oft getan wird. Anders als | |
Künstler in anderen sozialistischen Ländern wollten die jugoslawischen | |
Künstler den Kommunismus nicht aufgegeben. „Die Schwarze Welle wollte, dass | |
der revolutionäre Prozess weitergeht“, betont der Kurator Gal Kirn. „Ihre | |
Position war nicht dissident, sondern inhärent.“ Übrigens sind nicht alle | |
„schwarzen“ Filme düster, viele führen ihren Gegenstand durch gnadenlose | |
Überzeichnung vor. | |
„Slike iz zivota udarnika/Das Leben eines Bestarbeiters“ (1972) von | |
Bahrudin Cengic etwa durchleuchtet die Kommunistische Partei, ihre | |
Insignien und Mythen in originalgetreuer Ausstattung. In einer Szene | |
steigen schmutzige Grubenarbeiter immer wieder lächelnd mit einer | |
Blaskapelle einen Berg hinab, flankiert von einem riesigen Gemälde (es | |
zeigt nacheinander Stalin, Lenin, Tito), abgefilmt mal aus dieser, mal aus | |
jener Perspektive. | |
„Ihr müsst ihn höher werfen!“, befiehlt der Regisseur den Darstellern, die | |
den Bestarbeiter hochleben lassen. „Ein Mensch ist kein Vogel“, sagt der in | |
Anspielung auf den gleichnamigen Film von Makavejev. | |
Kaum zu glauben, dass eine solche Satire auf das sozialistische Jugoslawien | |
ebendort gedreht werden konnte. Für das Symposium waren auch Kurzfilme | |
ausgewählt worden. Zelimir Zilnik, Krsto Papic und Krsto Skanata lassen | |
darin Arbeitslose, Obdachlose und Gastarbeiter sprechen. Einige Filme sind | |
rein dokumentarisch, die meisten aber Montagen aus nachgestellten Szenen, | |
Nachrichtensendungen, Werbefilmen, Musikcollagen, Interviews, Cartoons. | |
## Arbeitslose singen Arbeiterlieder | |
Viele Szenen sind absurd: Ein Mann im Anzug erklärt, warum er einem | |
Grubenarbeiter – barfuß und in roten Shorts – auf einem Feld im dörflichen | |
Nirgendwo Geige spielen lehrt, oder in einer Notunterkunft marschieren die | |
in Lumpen gekleideten Arbeitslosen auf und ab, ein Arbeiterlied singend. | |
Hier blüht die andere Seite des Jugo-Sozialismus, die dunkle Seite einer | |
gesellschaftlichen Utopie. Dass die Erforschung der politischen und | |
ästhetischen Besonderheiten der Schwarzen Welle auch nach 50 Jahre noch | |
stockt, liegt vor allem an der Nationalisierung des gemeinsamen filmischen | |
Erbes. Paradoxerweise ist mittlerweile Jugoslawien selbst als nicht mehr | |
existierender Staat zu einem Black Spot geworden. | |
Dabei steht außer Frage, dass jene Filme ein spezifisch jugoslawisches | |
Produkt sind. Aber als solches sollte ihnen einen Platz in der | |
internationalen Kinematografie eingeräumt werden. | |
15 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
## TAGS | |
Jugoslawien | |
Sozialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Go-East-Festival in Wiesbaden: Der zweite Anzug der Avantgarde | |
In Wiesbaden beschäftigten sich eine Retrospektive und ein Symposium mit | |
den vielfältigen Hinterlassenschaften des sowjetischen Filmstudios | |
„Lenfilm“. | |
Tod von Jovanka Broz: Zirkus der Untoten | |
Dass Jugoslawiens frühere First Lady nun für immer schweigt, erfreut | |
ausgerechnet jene, die am lautesten ihr Schicksal beklagen. |