# taz.de -- Staatstheater: Klug animiertes Geschichtsbuch | |
> Tom Kühnels Projekt „Die französische Revolution – Born to Die“ lenkt… | |
> Hannover den Blick auf die Peinlichkeiten des modernen europäischen | |
> Staatswesens | |
Bild: Eine immer noch aktuelle Frage: Was hat die Freiheit mit dem Terror zu tu… | |
HANNOVER taz | „Ne schöne Leinwand hat das fette Schwein“, sagt einer der | |
Pariser Unterschichtler, die als montypythonesker Haufen in Versailles | |
einfallen und Louis XVI. und Marie Antoinette in die Hauptstadt schleppen | |
wollen. Das Datum „1789“ hat sich Regisseur Tom Kühnel für das Junge | |
Schauspielhaus in Hannover vorgenommen. Über weite Strecken ist „Die | |
französische Revolution – Born to Die“ ein elegant wie unterhaltsam | |
illustriertes und kommentiertes, ein klug animiertes Geschichtsbuch. | |
Einen gläsernen Bühnencontainer hat der Bühnenbildner, Licht- und | |
Videokünstler Jo Schramm dafür gebaut. Wahlweise lässt der sich als | |
Spiegel- und Leinwand, als Kammer und Saalattrappe oder gleich als | |
Guillotine nutzen. Bürgerzimmer und Schlossinnenräume lassen sich auf die | |
Rückwand projizieren. Sodass des Pöbels Satz von der „schönen Leinwand des | |
fetten Schweins“ auch darauf verweist: epochenimmanent auf die riesigen | |
Gemächer, die kunstvollen Wandbehänge und Trompe l’oeuils und Gärten | |
Versailles, die alles andere zeigen als die Not des brotlosen Volks. | |
Der Souverän geht hier – mit Filmsoziologiebegründer Siegfried Kracauer | |
gesprochen – gewissermaßen als „kleines Ladenmädchen ins Kino“, statt s… | |
mit Staatsschuldenkrise und sozialen Verhältnissen zu beschäftigen. Wie die | |
von Kracauer analysierte Angestelltenkultur eskapistisch das | |
kinematografische Historiendrama, schaut dieser Louis XVI. auf seine | |
Versailler Leinwand – und ist sich selbst sein eigenes „Historiendrama“. | |
Wobei ihn das Dramatische der zeitgleich sich strukturell hervorbringenden | |
Revolution umso überraschender trifft. | |
Zum anderen weist der Satz das Stück als Stück aus: Kein | |
Abbildungsrealismus mit möglichst echtem Saal, sondern eine variabel auf | |
den zu durchquerenden Diskurs abgestimmte Raum- und Spielsituation. Ohne | |
Beleuchtung verschwindet das Glasgebilde nahezu. Sodass Louis XVI. im | |
leeren Bühnenraum neben Bürgermeister Bailly steht (eine der vielen Rollen | |
des körperlich beeindruckend präsenten und stimmlich vielseitigen Oscar | |
Olivo) – und sich wundert, dass Paris überhaupt einen Bürgermeister hat. | |
Aus seinem Amt spreche der Wille des Volkes, nuschelt Olivos Bailly, blau, | |
rot, weiß behängt unterm Napoleonhut. Ob der König so freundlich wäre, sich | |
auch eine revolutionäre Rosette anzustecken? „Wenn Sie das bitte für mich | |
übernehmen wollen?“, erwidert dieser. Ganz ohne Tamtam steckt in diesem | |
Dialog ein Gutteil Umsturz. Nicht weniger als seine „gottgegebene“ | |
Souveränität lässt Louis XVI. fahren, indem er sich dessen Farben anstecken | |
lässt. | |
Und dann steht plötzlich Marie Antoinette da, mit türmchenhoch gepuderter | |
Frisur und in weitem Kleid, und spricht einen Text des slowenischen | |
Philosophen Slavoj Žiźek. Der handelt davon, wie sich an den | |
Interpretationen der französischen Revolution stets Gegenwart ablesen | |
lässt. Was man etwa daran sieht, dass die unruhigen Gewässer, in die die | |
Monarchie sich manövriert hat, samt und sonders von bürgerlicher | |
Bühnenmusik – Beethoven voran! – untermalt werden. Von der Scham der | |
bürgerlichen Gesellschaft handelt der Text zudem, weil sie des | |
jakobinischen Terreur bedurfte, um die Menschenrechtserklärung zu bekommen. | |
Hier die Chronologie umzukehren – also die Exekution des Herrscherpaares, | |
dann dissidenter revolutionärer Positionen und schließlich Robespierres | |
selbst gedanklich vor die Menschenrechte zu setzen – verpasst die | |
Inszenierung. „1789“ dauerte tatsächlich bis 1793, mindestens. Irgendwie | |
unangenehm. | |
Paradoxerweise markiert Kühnel die Schnittstelle zwischen Aufstand und | |
Terror einerseits präzise, tappt andererseits mit seinen Bildern just in | |
genannte Schamfalle. Denn die Ausschweifungen Marie Antoinettes und Louis | |
XVI. ebenso wie das Aufbegehren des dritten Standes dürfen in kurzen Szenen | |
schräg daherkommen. Dieser unterhaltsame Geschichtsdurchlauf ist in seinen | |
meist grellen Elementen deutlich Ariane Mnouchkines zirzensisch-schräger | |
Performance „1789“ von 1970 abgeschaut. Für Phase 2 der Revolution bleibt … | |
vor allem entlang Büchners „Danton“ – dann doch wieder nur der hohe | |
Staatsschauspielton. Dafür, dass Mnouchkines Arbeitsweise rückgebunden sein | |
konnte an den Pariser Mai 1968, an Formen des Straßentheaters, wie man es | |
1967 beim Marsch auf das Pentagon als selbstverständlichen Bestandteil von | |
Protest erleben konnte, kann Kühnel nichts. | |
Aber die Gleichung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit um das | |
Schockhafte der (auch und gerade eigenen) Gewalt zu ergänzen, verpasst | |
„Born to Die“ leider ebenfalls. Eigentümlich unsichtbar bleibt das tote | |
Königspaar, dessen Ermordung die Revolution doch vom Moment der Geburt an | |
mit dem Widerspruch von Freiheitsideal und Durchsetzungsgewalt ausstattet. | |
Was sich (nicht nur) mit Blick in die gegenwärtige arabische Welt prima | |
hätte gedanklich verlängern lassen. | |
Bis dahin schälen Kühnel und das dauerrollenwechselnde siebenköpfige | |
Ensemble aus einzelnen Beschwerden über Steuerungerechtigkeit und | |
aristokratische Willkür einen kollektiven Klagegesang heraus, der in ein | |
forderndes Geschrei übergeht. Erstes Anzeichen jener „göttlichen Gewalt“, | |
die Antoinette/Žiźek später in Rückgriff auf Walter Benjamin als | |
unwiderstehliche Kraft hinter dem jakobinischen Terror markieren wird. | |
Sebastian Schindegger bricht zu einem wunderbaren Solo aus dem Brüll-Chor | |
(und aus seiner historischen Rolle als „dritter Stand“): „Das war nicht d… | |
Revolution, falls Sie sich das jetzt gefragt haben. Schreien allein hilft | |
nicht.“ In brüchiger Manier doziert er über Ursachen, Wirkungen und | |
Entwicklungen. | |
Mal läuten die sieben Akteure in einem klug, aber ruppig gebauten | |
Sprechcrescendo den „Sturm auf die Bastille“ ein, mal feiern sie als | |
Landadel zum Beat der 70er die Unterstützung der Aufständischen als | |
feuchten Traum ihres dekadenten Lebenswandels. Mal exerzieren sie im | |
eleganten Stakkato die Positionsbestimmungen der revolutionären Prominenz | |
durch; vom knallharten Saint-Just über den rhetorisch versierten | |
Robespierre bis zum gemäldegleichen Marat in der Badewanne: alles | |
Advokaten. Die „das Glück der Straße machen“ wollen. | |
## ■ Mi, 15. 5. und Do, 16. 5., je 19.30 Uhr, Schauspiel Hannover, Ballhaus | |
Eins; weitere Termine: Di, 4. 6. und Mi, 5. 6., je 19.30 Uhr | |
10 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Tim Schomacker | |
## TAGS | |
Hannover | |
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