# taz.de -- Adoption und die Folgen: Abschied nach neun Monaten | |
> Kerstin Paulsen hat ihren Sohn zur Adoption gegeben. Die Geschichte einer | |
> Mutter und die eines Kindes, das diese wieder fand. | |
Bild: Die Mutter verlassen, das Kind verlassen. | |
Eigentlich sollte sie das Kind abtreiben. Ihr Mann wollte es so. Sie hat es | |
nicht getan. Stattdessen gab Kerstin Paulsen ihren Sohn vier Stunden nach | |
der Geburt ab, um ihn nicht wieder zu sehen. Sie dachte: nie wieder. | |
Gut zwei Jahrzehnte später bekam sie auf Facebook, wo andere | |
Party-Einladungen verschicken, diese Nachricht: „Hallo, ich bin der | |
Andreas. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mich vor 20 Jahren zur Adoption | |
freigegeben haben? Wenn ja, würde ich Sie sehr gerne kennenlernen und mich | |
freuen, wenn wir uns persönlich treffen könnten. Ich möchte mich aber auch | |
nicht in Ihr Leben drängen und wenn Sie keinen Kontakt wollen, ist das | |
völlig in Ordnung. Ich wüsste nur gerne, ob Sie meine leibliche Mutter | |
sind. Mit freundlichen Grüßen, Andreas Schmitt.“ | |
Paulsen las die Nachricht auf der Arbeit, schluckte, schrieb sofort zurück. | |
Zweimal, weil sie beim ersten Mal die Telefonnummer vergessen hatte. Dann | |
wartete sie auf die nächste Nachricht, das nächste Zeichen. | |
Kerstin Paulsen hat ihren Sohn 1991 zur Adoption freigegeben, freiwillig | |
und „geschlossen“, wie das Jugendamt es nennt. Das heißt, die leiblichen | |
Eltern bekommen keine Informationen aus der Adoptivfamilie. | |
Nach der Geburt, es war der 20. Januar, konnte Paulsen ihren Sohn noch | |
einige Stunden im Arm halten. 3.950 Gramm, 55 Zentimeter groß, ein schöner | |
Junge. Als sie allein das Krankenhaus verließ, wusste sie: Das erste | |
Lächeln, die ersten Schritte, sie wird das nicht miterleben. Sie wird nicht | |
wissen, wo und bei wem er wohnt, wen er „Mama“, wen „Papa“ nennt. Das K… | |
verlassen. Die Mutter auch. | |
Und trotzdem ging sie nicht zurück, legte sich nicht wieder mit Andreas ins | |
Krankenhausbett. Sie stieg ins Auto ihres damaligen Mannes Klaus. Sie | |
fuhren davon. | |
## Kindsmutter | |
Paulsens Geschichte ist die einer Frau, für die die Adoption nur ein | |
weiterer Schicksalsschlag war. Und Freiwilligkeit ist ein relativer | |
Begriff. Sie war nicht zur Adoption gezwungen, aber sie sah keine andere | |
Möglichkeit. | |
Die 48-Jährige sitzt in ihrer Küche in Augsburg beim Tee. Eine zierliche, | |
schüchterne Frau. Neben ihr ihr jetziger Mann. Paulsen lacht schnell und | |
weint schnell. Beim Erzählen macht sie viele Pausen. Dann ist nur das | |
Ticken der Küchenuhr zu hören. Sie möchte, dass alle Namen geändert werden. | |
Ihr Leben ist eine Folge von Episoden mit Männern. Die derzeitige ist die | |
erste gute. | |
Paulsen stolperte früh ins Erwachsenenleben. Mit 16 war sie zum ersten Mal | |
schwanger. Sie hatte die Pille vergessen und bekam Daniel. Zum Glück | |
hielten ihre Eltern zu ihr. | |
Auf der Straße jedoch zischten Leute der jungen Mutter mitunter zu: „Du | |
Flittchen, ekelhaft. Wenn Kinder Kinder kriegen.“ Fünf Jahre später kam | |
Madeleine, von einem anderen Mann, der auch bald wieder weg war. Sie sagt, | |
die Männer liefen vor ihrer Verantwortung davon. Anders als sie selbst. | |
Tagsüber trug sie Zeitungen aus oder arbeitete bei Siemens am Fließband. | |
Nachts stand sie in einem Club hinter der Theke. Ein hartes Leben, trotzdem | |
war sie glücklich und ihr damaliger Freund passte zumindest auf die Kinder | |
auf. | |
Dann aber der nächste Schlag: Ihre Wohnung brennt ab. Im Heizlüfter im Bad | |
hatten sich Stoffflusen gesammelt, sie fingen Feuer. Paulsen wachte vom | |
Weinen ihrer Tochter auf, da stand die Wohnung schon voller Rauch. Sie lief | |
mit ihren Kindern auf die Straße und schaute auf ihr Haus. Alles war | |
zerstört, die Möbel, der Schmuck ihrer Großmutter, die Bilder. Paulsen, die | |
vorher schon einsam unter vielen war, stand nun allein da. „Wenn du | |
wirklich Hilfe brauchst, können Freunde ganz schnell weg sein“, sagt sie. | |
Der einzige, der ihr da half, war Klaus. Und so kam sie mit ihm zusammen. | |
„Aus Dankbarkeit“, sagt sie, „er war halt da.“ | |
## Rabenvater | |
Als Paulsen das erste Mal von ihm schwanger wurde, ignorierte er sie. Der | |
gemeinsame Sohn Robert war drei Monate alt, als sie morgens von der Arbeit | |
nach Hause kam und Klaus dösend auf dem Sofa fand. Er hatte gekifft. „Du | |
Klaus, warum ist denn das Fläschchen noch voll?“ – „Robert hat heute Nac… | |
durchgeschlafen.“ Paulsen geht ins Schlafzimmer, um nach ihrem Sohn zu | |
sehen. Er liegt auf dem Bauch in seinem Bett, die Nase nicht zu sehen, die | |
Händchen blau. Robert war tot. Plötzlicher Kindstod, erstickt, vielleicht. | |
Klaus’ Haare, erinnert sich Paulsen, seien von einem auf den anderen Tag | |
grau geworden. „Ansonsten ist er knallhart mit Roberts Tod umgegangen. Das | |
war abgeschlossen, schon vor der Beerdigung. Kind tot. Ende.“ | |
Von ihr erwartete er dieselbe Haltung, sagt sie und schaut am Küchentisch | |
in Augsburg ihren jetzigen Mann an, damit ihr die Stimme nicht ganz | |
wegbricht. Aber es war: „schrecklich“. | |
Vorher war Klaus ihr schon fremd, Roberts Tod kappte ihre Verbindung zu ihm | |
vollends. Nun verweigerte sich Paulsen ihrem Mann – auch sexuell. In ihrer | |
Augsburger Küche tickt die Wanduhr. „Er hat mich vergewaltigt, mehrmals. So | |
entstand Andreas.“ | |
Klaus sagte: „Den lassen wir abtreiben. Du wusstest, dass ich keine Kinder | |
will.“ | |
Paulsen traute sich nicht, es zum Streit kommen zu lassen. Klaus zu | |
verlassen schon gar nicht. Sie war die Pflanze und er der Züchter. Er | |
entschied, wie sie wachsen sollte. „Klaus hat mich kleingehalten, er gab | |
mir kein eigenes Geld, keine eigenen Klamotten.“ Sie dachte, wenn sie | |
ginge, würde sie einknicken, es nicht schaffen. Da war sie sich sicher. | |
Also willigte sie ein, machte einen Termin für die Abtreibung. Und ging | |
nicht hin. Nach drei Tagen flog alles auf, es war ihr rausgerutscht. „Klaus | |
war wütend“, sagt sie. Bis sie vorschlug, das Kind zur Adoption | |
freizugeben. Damit konnte er leben. | |
Wenn sie heute von dieser Zeit erzählt, hört es sich an, als spreche sie | |
über eine Fremde. „Um mich herum war nur Nebel, ich habe das alles einfach | |
ausgeführt, aber ich war nie wirklich dabei.“ Paulsen ging zum Jugendamt, | |
sagte, sie wolle ihr Kind zur Adoption freigeben. Der Termin dauerte keine | |
halbe Stunde, ohne Beratung, ohne Aufklärung. Dass es auch eine offene | |
Adoption gibt, bei der sie hätte erfahren können, wie es dem Kind geht, | |
erzählte ihr niemand. | |
Sechs Wochen später unterschrieb sie ein Formular beim Notar: „Am | |
20.01.1991 habe ich in Augsburg das Kind Andreas Paulsen geboren, das bei | |
den in der Adoptivelternkartei unter der Nr. 19/80 beim Kreisjugendamt | |
Augsburg geführten Eheleuten in Pflege ist. Ich erkläre hiermit gegenüber | |
dem Vormundschaftsgericht Augsburg meine Einwilligung in die Annahme des | |
Kindes durch die in der Adoptivelternkartei unter der Nr. 19/80 beim | |
Kreisjugendamt geführten Eltern. Mir ist bekannt, daß ich die Einwilligung | |
nicht widerrufen kann.“ | |
Dem Jugendamt gab sie einen Brief, handgeschrieben, für die neuen Eltern | |
ihres Sohns: „Habt ihn lieb, passt auf ihn auf.“ | |
Den meisten Freunden sagte sie nichts, ihren Eltern hatte sie nicht einmal | |
erzählt, dass sie schwanger war. Ihre Mutter erfuhr es vom gemeinsamen | |
Frauenarzt, der seine Verschwiegenheitspflicht verletzte. Die Mutter sagte: | |
„Ich habe nicht gewusst, dass Kerstin so eiskalt ist.“ | |
Auch nach der Adoption konnte sich Paulsen nicht von Klaus trennen: „Ich | |
dachte, es wäre normal, mich so zu behandeln“, sagt sie. | |
Erst vier Jahre danach schaffte sie es, ihn zu verlassen. Später lernte sie | |
ihren jetzigen Mann kennen, der erzählt: „Sie war ein Häufchen Elend, | |
Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Kieferschmerzen.“ Sie knirschte nachts mit | |
den Zähnen, bis sie abgerieben waren. | |
## Verlorener Sohn | |
Das Schlimmste war, nichts über ihren Sohn zu wissen. Was macht er, wie ist | |
er? Vor allem: Lebt er noch? „Ich hatte Angst, weil Robert als Säugling | |
gestorben war“, sagt Paulsen. Sie versuchte, über das Jugendamt Kontakt | |
aufzubauen. Vergeblich, die Beamten blockten ab. | |
Zwanzig Jahre später meldet sich Andreas auf Facebook, er hatte Paulsens | |
Namen aus den Jugendamt-Akten seiner Eltern. Sie lädt ihn ein: Im | |
Mohrenkönig in Augsburg feiern sie den 30. Geburtstag ihres ältesten Sohns | |
Daniel. Eine Rockband spielt, die Stimmung ist ausgelassen. Dann kam | |
Andreas. „Wir standen draußen beim Rauchen, haben uns angeschaut und waren | |
glücklich“, sagt sie. | |
Unterhalten haben sie sich kaum, weil die Umstehenden auf sie einredeten. | |
„Wow, so lange habt ihr euch nicht mehr gesehen?“ „Und, wie fühlt ihr | |
euch?“ | |
Seitdem ist etwas mehr als ein Jahr vergangen. Andreas und seine Mutter | |
haben sich fünfmal gesehen. Sie würde ihn gern öfter sehen, nimmt sich aber | |
zurück. „Meine Tochter meint: Mit ihm bist du immer ganz vorsichtig.“ Sie | |
habe Angst, ihren Sohn noch einmal zu verlieren. „Für Andreas ist das nicht | |
so wichtig, der ist 20 Jahre ohne mich ausgekommen.“ Manchmal sagt er ab. | |
Mal verpennt er ein Treffen auch einfach – wie Söhne eben so sind. | |
In Augsburg am Küchentisch klickt sich Paulsen durch die Fotoalben ihres | |
Sohns auf Facebook. Auf einem Bild liegt Andreas betrunken vor einer | |
Heizung. „Na, mir trinkt er schon ein bisschen zu viel“, sagt Paulsen. Wie | |
Mütter es eben sagen. | |
28 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Kempkens | |
## TAGS | |
Adoption | |
Schwerpunkt Facebook | |
Mütter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
ARBEIT: Berlinerinnen sind billiger zu haben | |
Der neue Gender Report zeigt: Mehr Frauen haben Arbeit – die Frage ist nur, | |
was für eine. |