| # taz.de -- Lebensplanung für Singles: Immer in Verbindung bleiben | |
| > Die Kernfamilie schlägt zurück – mit Existenzangst und Unsicherheiten: | |
| > Wie die coolen Singles der 80er ins Abseits gedrängt wurden. | |
| Bild: Auch Störche fühlen sich nach neueren Umfragen wieder wohler in Familie… | |
| Im öffentlichen Diskurs ist seit einigen Jahren von der Gefährdung der | |
| Mittelschicht die Rede. Wachsende Ungleichheiten, der Abbau | |
| wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die Prekarisierung von Arbeitsplätzen, | |
| haben zum Empfinden beigetragen, dass Lebensrisiken zunehmen und die | |
| Zukunft weniger kalkulierbar sei. | |
| Als Folge sehnen sich viele Menschen heute wieder nach Sicherheiten und | |
| Traditionen. Darin zeigt sich eine Abkehr von Werten der Autonomie und der | |
| postkonventionellen Orientierungen, wie sie in der Vergangenheit vor allem | |
| in der 68er Generation und die Generation der Neuen Sozialen Bewegungen | |
| typisch waren. Viele fürchten sich heute nicht mehr in erster Linie vor | |
| Beschränktheit und Provinzialität, sondern vor Statusverlust. Sie suchen | |
| Bindungen statt Optionen. | |
| Dies spiegelt sich auch in der Suche nach geschützten Lebensformen wider. | |
| Zwar leben mehr Menschen denn je heute als Single – die Zahl der | |
| Partnerlosen in Deutschland ist seit den 1970er Jahren kontinuierlich | |
| angestiegen und umfasst heute etwa acht Millionen Menschen –, doch hat die | |
| Popularität des Alleinlebens stark nachgelassen. | |
| Singles sind heute keine Leitfiguren mehr. Im Gegenteil: Sie scheinen | |
| besonders anfällig für Risiken der Vereinsamung, des emotionalen Abstiegs | |
| und der sozialen Entkopplung zu sein. Doch stimmt das? Manchmal ja. | |
| Betrachten wir zum Beispiel Sibylle R., 47 Jahre alt, Single, in Berlin | |
| lebend und zurzeit arbeitslos. Sie kann als typische Bildungsaufsteigerin | |
| verstanden werden. Von ihrem Elternhaus und ihrer Herkunft aus dem | |
| Arbeitermilieu hat sie sich durch ihre Bildungslaufbahn weit entfernt. Nach | |
| dem Studium der Architektur scheinen alle Wege offen. | |
| ## Scheitern und Niederlagen | |
| Sie arbeitet zunächst in einem Museum, wechselt dann in die Bauwirtschaft | |
| und hört wieder damit auf, als der Bauboom im Osten sich erschöpft. Sie | |
| gründet eine eigene PR-Firma, die sich mit Vermarktungskonzepten für | |
| Immobilien befasste. Doch die Auftragslage ist mager, sie muss das Geschäft | |
| bald aufgeben. Nach einer längeren Bewerbungsphase tritt sie eine Stelle in | |
| einer Unternehmensberatung in München an: Ein Posten, der gemessen an den | |
| sonst in dem Unternehmen üblichen Gehältern, zwar nicht üppig bezahlt, aber | |
| nichtsdestotrotz ein „absoluter Glücksfall“ ist, wie sie sagt: Es sei wie | |
| ein später Aufbruch in eine normale, gefestigte Existenz gewesen. | |
| Doch nach eineinhalb Jahren wird sie wieder entlassen, ihre neu bezogene | |
| Wohnung in München muss sie aufgeben. Sie erlebt dies als persönliche und | |
| nicht nur als berufliche Niederlage, ein Scheitern bei der zwar späten, | |
| doch auf hohem Niveau erfolgten Etablierung: Sie sei es leid, mit fast 50 | |
| Jahren noch wie eine Studentin zu leben. Ihre Chancen, in naher Zukunft | |
| eine adäquate Stelle zu finden, schätzt sie gering ein. Eine die Existenz | |
| sichernde Rente wird sie nicht bekommen. Auch das Eingehen einer | |
| dauerhaften Partnerschaft will nicht gelingen. | |
| Aus Enttäuschung wird Verzweiflung: Sibylle sieht sich an einem Tiefpunkt | |
| ihrer Entwicklung. Von Freunden, die ihr „gute Ratschläge“ erteilen und sie | |
| schulterklopfend bemitleiden, hat sie sich distanziert. Die strukturelle | |
| Tatsache der Beschäftigungslosigkeit nimmt sich neben den introspektiven, | |
| selbstquälerischen Aspekten ihres Werdegangs nahezu harmlos aus: Sibylle | |
| fragt sich heute, warum es ihr nicht gelingt, ein „normales“ Leben in | |
| Partnerschaft und Beruf zu führen. | |
| In gewisser Weise haben Singles wie Sybille den Anschluss an den | |
| neoliberalen Zeitgeist verpasst, paradoxerweise gerade weil sie die | |
| Botschaft der autonomen Lebensführung zu ernst genommen, sich zu lange zu | |
| viele Optionen offen gehalten, zu schnell und zu viel riskiert und sich | |
| dadurch die Rückkehroption in ein „normales Leben“ verbaut haben. Sie | |
| laufen nun Gefahr zu „aktiven Verlierern“ zu werden, weil sie nicht | |
| rechtzeitig „bürgerlich“ geworden sind. | |
| Das war mal anders. Noch in den 1980er Jahren galten Singles als | |
| Speerspitze des Fortschritts. Sie prägten das Lebensgefühl einer ganzen | |
| Generation der „Babyboomer“ – also der zwischen 1958-1969 Geborenen. Häu… | |
| aus provinziellen Lebensformen oder beschränkten sozialen Lagen entstammend | |
| erlebte diese Generation als junge Erwachsene zunächst einen beträchtlichen | |
| sozialen und beruflichen Aufschwung. Dabei waren sie keineswegs von Ehrgeiz | |
| zerfressen. In ihrer Berufs- und Partnerwahl folgten sie ganz dem Prinzip | |
| der individuellen Autonomie. | |
| ## Entfesselter Markt | |
| Die Selbstverwirklichung hatte Vorrang vor lebenslangen Bindungen an Beruf, | |
| Partnerschaft oder Familie. Diese sollten in erster Linie der inneren | |
| Selbstentfaltung dienen. Das Einkommen war demgegenüber oft zweitrangig. | |
| Für die meisten Angehörigen dieser Generation ging die Rechnung zunächst in | |
| finanzieller wie persönlicher Hinsicht auf: Nicht nur konnten sie sich die | |
| Selbstverwirklichung beruflich leisten, sie wurden zu moralischen | |
| Instanzen, zu Normgebern einer postmaterialistischen Lebensweise. | |
| Doch ab Ende der 1990er Jahre mussten sich die Ideale von Individualismus | |
| und Selbstverwirklichung plötzlich auf einem entfesselten kapitalistischen | |
| Markt bewähren. Der Druck ist zu hoch geworden, um sich romantische | |
| politische Ansichten in Arbeit und Beruf noch leisten zu können. Zahlreiche | |
| Beschäftigungs-Nischen wie ABM-Stellen wurden geschlossen. Universitäten | |
| und andere öffentliche Einrichtungen sind keine kulturellen Schmelztiegel | |
| mehr, sondern unterliegen dem Wettbewerb. Diejenigen, die am Gestus des | |
| Politischen festhalten, rücken ins Abseits. | |
| Die Angehörigen dieser Generation spalteten sich nun häufiger in | |
| „Gewinner“, die den Absprung in die gesicherten Lebensumstände noch | |
| rechtzeitig geschafft haben und nun über ein festes Einkommen, Beruf und | |
| häufig auch Familie verfügen. Das Vorweisen einer solch „intakten“ Familie | |
| wird für sie oft zum wichtigen Status-Merkmal innerhalb des eigenen | |
| Milieus, aber auch gegenüber den prekären Lebenslagen. Demgegenüber stehen | |
| „Verlierer“ wie Sybille R., die in unkonventionellen Lebensformen | |
| verblieben sind. Sie bekommen nun die Härte fehlender biografischer | |
| Festlegungen und kollektiver Einbindungen zu spüren. | |
| ## Entwertung alternativer Lebensstile | |
| Die gilt zum Beispiel auch für Sabine S., 39 Jahre. Ursprünglich aus | |
| Ostberlin stammend, hat sie mit Mitte 30 ein Studium der Anglistik | |
| begonnen. Fest eingebunden im Freundeskreis von Studienkollegen spürte sie | |
| zunächst keinen Wunsch nach einer Partnerschaft. Zweifel an ihrer | |
| Lebensform als Single kamen erst auf, als ihre Freunde nach und nach in | |
| festen Partnerschaften „verschwanden“ und sie die Erfahrung machen musste, | |
| wie schwierig es ist, im fortgeschrittenen Alter neue Freunde zu gewinnen. | |
| Auch kommt es zur Entwertung alternativer Lebensstile. Dies lässt sich | |
| sozialstrukturell am Verschwinden des „alternativen“ Milieus in Deutschland | |
| aufzeigen. Laut Sinus-Milieustudie umfasste dieses Milieu 1982 fünf Prozent | |
| der Bevölkerung, seit dem Jahr 2000 ist es nicht mehr feststellbar. Ein | |
| Teil davon hat sich seit den 1990er Jahren von der Protestkultur zum | |
| „postmodernen Milieu“ hin entwickelt, das alternatives Leben als | |
| ästhetisch-konsumistisches Projekt weiterführt, ohne damit noch einen | |
| politischen Anspruch zu verfolgen. | |
| Und obwohl nichttraditionale Lebensformen außerhalb der bürgerlichen | |
| Kernfamilie bzw. Ehe, wie etwa Singledasein, Alleinerziehende und | |
| Patchworkfamilien, faktisch zugenommen haben, mehren sich heute die | |
| Stimmen, die Familiensinn beschwören und vor der „Zersetzung“ von | |
| Gemeinschaften warnen. Der Rückzug ins Private erfüllt auch | |
| kompensatorische Funktionen angesichts einer Arbeitswelt, in der Anpassung | |
| statt Autonomie und Selbstbehauptung gefragt ist. Im Privaten ist man | |
| „Herr“ der Lage, hier gilt, was man moralisch für richtig hält. Die | |
| Mentalitäten des neuen Jahrhunderts weisen mehr Ähnlichkeiten mit der Moral | |
| der 1950er und 1960er Jahre auf als mit der postmodernen Vielfalt der | |
| 1980er Jahre. | |
| 18 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Cornelia Koppetsch | |
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