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# taz.de -- Gebärstreikdebatte 1913: Mit Rosa gegen die Frauenbewegung
> Kurz vor dem 1. Weltkrieg stempelte die SPD-Führung Geburtenkontrolle als
> „Dummheit“ ab – die Arbeiterklasse brauchte Masse. Die Frauen wollten
> Selbstbestimmung.
Bild: Rosa Luxemburg-Graffiti in der Dresdner Neustadt.
Am Abend des 22. August 1913 fand in der Berliner „Neuen Welt“ eine
spektakuläre Diskussion statt. Unter dem Titel „Gegen den Gebärstreik“
hatte der Vorstand der „Sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und
Umgebung“ eingeladen. Der Saal auf dem Gelände des Neuköllner
Vergnügungsparks bot etwa 2.000 Personen Platz. An diesem Abend war der
Andrang jedoch so groß, dass der Saal wegen Überfüllung polizeilich
gesperrt werden musste.
Der Sozialdemokrat Eugen Ernst, der die Diskussion leitete, hatte
Schwierigkeiten, die Versammlung in Schach zu halten. Wie der
Kriminalschutzmann Gottmann zu Protokoll gab, artete die Debatte immer
wieder „zum Gebrüll aus“. Schließlich habe Ernst geschrien: „Es ist nic…
als wenn hier Parteigenossen im Saal sind, sondern als wenn Vieh und Affen
herumtoben.“ Diese Diskussion ging als „Gebärstreikdebatte“ in die
Geschichte ein.
Die Idee eines „Gebärstreiks“ hatten in Deutschland die
sozialdemokratischen Berliner Ärzte Alfred Bernstein und Julius Moses
populär gemacht. Sie knüpften an die neomalthusianische Bewegung an, die
Geburtenkontrolle als Mittel zur Verbesserung der Bedingungen der Armen
forderte. Mit dem Ökonomen Malthus, der 1798 die Lösung der sozialen Frage
durch sexuelle Enthaltsamkeit in den unteren Schichten proklamiert hatte,
erklärten Neomalthusianer Kinderreichtum zur Wurzel der Armut.
Dem Geburtenrückgang, der Ende des 19. Jahrhunderts in Europa eingesetzt
hatte, lagen aber vor allem neue Verhütungsmethoden (etwa Pessare)
zugrunde, die auch von eugenisch gesinnten Ärzten entwickelt und von der
Industrie auf den Schwarzmarkt gebracht worden waren.
Bernstein und Moses sahen darin ein politisches Machtinstrument. Im Fall
eines langfristigen Geburtenrückgangs seien „die herrschenden Klassen am
Ende ihres Lateins“, schrieb Moses, und Bernstein sagte in einer Rede: „Der
Geburtenrückgang trifft den Kapitalismus an seinem Lebensmark. Wenn wir
Ausbeutungsobjekte nicht rekrutieren, wenn wir das Heer nicht vermehren,
dann ist der Kapitalismus am Ende.“
## Geburtenrückgang im „roten Königreich“
Politiker jeder Couleur, Mediziner und auch Repräsentanten der
Arbeiterbewegung beklagten das Sinken der Geburtenziffer als
„Krebsgeschwür“, „Volkskrankheit“ und als Zeichen eines bevorstehenden
„Rassen“- oder „Volkstodes“. In den 1913 geführten Debatten über den
Geburtenrückgang saß auch die SPD auf der Anklagebank. Politiker anderer
Parteien erhoben den Vorwurf, das Sinken der Geburtenziffer sei auf
sozialdemokratischen Einfluss zurückzuführen, zumal in Berliner
Wohnvierteln sowie in Sachsen – dem „roten Königreich“ – ein erheblich…
Geburtenrückgang belegt war.
SPD-Politiker verwahrten sich gegen solche Attacken; auch sie
interpretierten diese Entwicklung als nationale Gefahr. „Was wir für eine
segensreiche Entwicklung unseres Vaterlandes zu wünschen haben, ist, dass
die Bevölkerungszunahme nicht zurückgeht, sondern möglichst gesteigert
wird“, erklärte der SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Hoch.
Sozialdemokraten führten die rückläufige Geburtenzahl bei Arbeiterfrauen
auf eine biologisch bedingte Unfruchtbarkeit infolge kapitalistischer
Arbeitsverhältnisse zurück. Mit dieser Position hatte die SPD in ihren
eigenen Reihen einen schweren Stand.
Auf die Forderungen von Moses und Bernstein reagierte die SPD-Parteileitung
1913 mit Artikeln im Vorwärts: „Gerade unter den Genossinnen findet man
Verteidiger für die Notwendigkeit des Gebärstreiks. Sie schildern lebhaft
die Nöte einer Mutter mit acht Kindern, deren Berufs- und Hausarbeiten
keine Zeit zum Besuch von Versammlungen übrig lassen. Diese Beweisführung,
die von tausenden Proletariermüttern mit dem Gefühl eigener bitterer
Erfahrungen wiederholt wird, ist, so bestechend sie auch erscheinen mag,
nichtsdestoweniger falsch.“
## Zetkin und Luxemburg gegen Gebärstreik
Eine weitere Kampagne gegen den Gebärstreik startete der Berliner
SPD-Vorstand: Im August 1913 inszenierte er die erwähnte
Parteiveranstaltung. Da es der Parteileitung darum ging, Frauen zu einer
Positionsveränderung zu bewegen, trat vor allem die weibliche
Parteiprominenz auf: Clara Zetkin, Luise Zietz und Rosa Luxemburg. Zetkin
erinnerte an die politische Bedeutung der zahlenmäßigen Übermacht des
Proletariats: Die Arbeiterklasse dürfe nicht vergessen, „dass für ihren
Befreiungskampf die große Masse von ausschlaggebender Bedeutung“ sei. Ein
Blick in die Geschichte zeige, „dass die aufstrebenden Klassen nicht durch
ihre Qualität, sondern durch ihre Masse gesiegt“ hätten. Die Zahl der
„Soldaten für die Revolution“ sei gefährdet, statt „Feigheit und Kleinm…
forderte sie „Klassenaktion“. Luxemburg wertete die Popularität des
Gebärstreiks ab: Er appelliere „an die Oberflächlichkeit, Dummheit und
Denkfaulheit in den Massen“.
Solche Argumentationen überzeugten indes nicht: Die vorformulierte
Resolution „Gegen den Gebärstreik“ wurde nicht verabschiedet, stattdessen
brach der Konflikt zwischen Parteileitung und Frauen erst richtig aus: Ende
August fand eine wiederum überfüllte zweite Veranstaltung statt.
Am bedingungslosen Gebärzwang konnte die SPD aber nicht mehr festhalten,
Parallelen zwischen dem staatlichen Kurs und der sozialdemokratischen
Position wären sonst zu offenbar geworden. Nun versuchte Luise Zietz, den
Konflikt zu beizulegen. Sie erklärte die Geburtenkontrolle zu einer rein
privaten Entscheidung. Die Frauenrechtlerin Minna Güldner resümierte
hingegen, die Genossinnen aus Berlins Norden gingen mit der Position
Zetkins nicht konform.
Auch Bernstein und Moses erfuhren eine große Resonanz. Im Sinne der
neomalthusianischen Maxime „Qualität statt Quantität“ sahen sie in dem
Gebärstreik eine Chance zum politischen Aufstieg der unteren Schichten:
„Friedrich der Große hat gewissermaßen mit einer Handvoll Soldaten ganz
Europa bezwungen. Es kommt eben nicht auf die Quantität, sondern auf die
Qualität der Menschen an.“
Dieses Argumentationsmuster war im Kern mit der Eugenik verwandt: „Ihr
Mediziner wollt die Tuberkulose bekämpfen, dann macht den Schoß
unfruchtbar, der, nur Elend gebärend, der Trägerin selbst Elend bringt. Ein
Drittel meiner weiblichen Klientel muss nach meiner Schätzung im Interesse
der Arterhaltung der Fähigkeit beraubt werden, zu gebären“, so Bernstein.
Dass die Idee, in einen Gebärstreik zu treten, die Arbeiterinnen trotz
aller Instrumentalisierungen faszinierte, erklärt sich aus einer Tatsache:
Ein Problem, mit dem viele Frauen konfrontiert waren, bekam eine Sprache.
Wie eng der Spielraum für Frauen war, verdeutlicht der Fall Alma
Wartenberg. Als einzige Sozialdemokratin propagierte sie gegen die
Parteilinie den Gebärstreik: „Wenn der Staat auch noch so viel Gesetze
gegen den Rückgang der Geburten schaffe, so müsse die Frau doch Herrin über
ihren eigenen Körper bleiben. Das Recht, sich gegen Geburten zu schützen,
stehe ihr selbst gegen den Willen ihres Ehemannes zu!“
Sie forderte das Recht auf eigene Lebensgestaltung für Frauen, ohne die
Geburtenkontrolle für „höhere“ Ziele zu instrumentalisieren. Das brachte
sie sowohl mit der SPD als auch mit der Justiz in Konflikt. Die Partei
distanzierte sich von ihr; wegen eines Vortrags zu Verhütungsmethoden wurde
sie 1913 nach Paragraf 184 Strafgesetzbuch zu zwei Monaten Gefängnis
verurteilt. Hatte sich dieser Paragraf zunächst gegen Pornografie und
Prostitution gerichtet, wurde er bald auf den Handel mit und das Anpreisen
von Verhütungsmitteln angewandt.
Die Gebärstreikdebatte illustriert den Bruch mit dem aus dem 19.
Jahrhundert stammenden Konzept des biologisch verankerten „Muttertriebs“.
Diese Weiblichkeitsvorstellung erfuhr eine Veränderung durch die neue
Sexualmoral, die mit sehr verschiedenen Argumenten von der politischen
Avantgarde vertreten wurde.
Im Gegensatz zu Eugenikern konnten sich Politiker aller Fraktionen noch
nicht mit der Geburtenkontrolle arrangieren. Sie hielten an dem keuschen
Mutterschaftsideal der bürgerlichen Gesellschaft fest. Und so provozierte
diese Diskussion ungewöhnliche Allianzen; sie ist ein Lehrstück
geschlechterpolitischen Umbruchs, in dem christliche, bürgerliche,
sozialistische, eugenische sowie feministische Positionen neu ausgefochten
wurden.
14 Jul 2013
## AUTOREN
Anna Bergmann
## TAGS
SPD
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