# taz.de -- Angriff auf Bauarbeiter: Shitstorm gegen die Vernunft | |
> Die Neustädter Ortsamtsleiterin hat in einer Rede anlässlich des | |
> „Baustellen-Überfalls“ zu Besonnenheit aufgerufen – und erntet dafür … | |
> Hetze und Hass-Mails. | |
Bild: Tatort: an der Hohentorsheerstraße: Hier wurden die Bauarbeiter überfal… | |
Nach dem Überfall auf eine Baustelle in der Neustadt, bei dem vier Arbeiter | |
verletzt wurden, einer davon durch einen Messerstich, sucht die Polizei | |
noch immer nach den Tätern (taz berichtete). Andere haben sie offenbar | |
schon gefunden, allen voran die Bild-Zeitung: „Politikerin nimmt die Miris | |
auch noch in Schutz“, titelte am Mittwoch in dicken Lettern ihr Bremer | |
Lokalteil. „Die Miris“ waren’s also, und weil die Neustädter | |
Ortsamtsleiterin Annemarie Czichon öffentlich vor Vorverurteilungen warnte, | |
wurde sie nicht nur dort scharf angegriffen. | |
Auch in sozialen Netzwerken wie den Facebook-Accounts der „Alternative für | |
Deutschland“ (AfD) oder der „Identitären Bewegung Nürnberg“ wurde der | |
Artikel verlinkt und kommentiert: „Inzwischen rechne ich der Bild hoch an, | |
auch mal zu benennen, wo diese Idioten alle herkommen“, lobt da jemand das | |
Boulevard-Blatt. | |
Und das tun auch rassistische Internet-Portale wie „Zukunftskinder“ oder | |
der vom Verfassungsschutz beobachtete „PI-News“-Blog, der auch gleich | |
Czichons Mailadresse nannte. „Über hundert Mails aus ganz Deutschland habe | |
ich seitdem bekommen“, sagt Czichon, „fast alle beleidigend und | |
hasserfüllt.“ | |
Vorausgegangen war dem Shitstorm eine Rede, die Czichon am Dienstag auf | |
einer Mahnwache an jener Baustelle gehalten hat, die vor zehn Tagen von | |
rund 30 Männern gestürmt wurde. „Wir haben“, sagt Polizei-Sprecherin | |
Kirsten Dambeck, „unter ihnen eine Beteiligung einzelner Personen | |
festgestellt, die über ein paar Ecken dem Umfeld der Miris zugerechnet | |
werden können – allerdings ohne, dass wir ihnen eine konkrete Tat zuordnen | |
können.“ Annemarie Czichon mahnte deshalb zur Besonnenheit und appellierte | |
an die NeustädterInnen, nicht in ein „Schwarz-Weiß-Denken“ zu verfallen u… | |
friedlich miteinander umzugehen. | |
„Ich finde das, was da passiert ist, ganz furchtbar und habe deutlich | |
gesagt, dass ich für eine scharfe Strafverfolgung bin“, sagt Czichon. „Das | |
haben auch alle mitgekriegt, die es mitbekommen wollten.“ Einige wollten | |
aber nicht, und so heißt es im Internet: „Da blieb den Teilnehmern (...) | |
die Spucke weg: Die Ortsamtsleiterin vergriff sich bei ihrer Ansprache | |
mächtig im Ton.“ Und weiter: „Anwesende Polizisten schüttelten während d… | |
Rede verständnislos den Kopf.“ | |
„Das stimmt nicht“, sagt Dambeck. „Im Gegenteil: Die Rede von Frau Czichon | |
war ausgewogen und angemessen – und das hat ihr der Neustädter Revierleiter | |
auch gesagt.“ Man prüfe nun, wie man gegen solche Behauptungen vorgehen | |
könne: „Da gibt es ja zur Not auch noch den Presserat, den man einschalten | |
könnte.“ | |
Die Internetseite „Zukunftskinder“ habe sie an die Kripo und den | |
Polizeipräsidenten gemeldet. Auf ihr wird fabuliert: „Innensenator Mäurer | |
spricht am 14. 8. 2013 von Moslems auf dem Weg zur Moschee zum Fasten | |
brechen. Dabei wollten sie durch die Baustelle. Die Bauarbeiter wiesen sie | |
auf das Verbot hin und die Moslems holten Verstärkung angesichts der | |
mangelnden Unterwürfigkeit der Nicht-Moslems. Zuerst kundschaftete ein | |
Moslem die Baustelle aus, dann kam der 20-30 Mann starke | |
Miri-Schlägertrupp.“ | |
„Es war“, sagt der Bremer Rechtsanwalt Martin Stucke, „die Polizei, die | |
Anfang der 90er-Jahre den Begriff ’Die Miris‘ vorangetrieben hat – erst | |
seit ein, zwei Jahren schaut sie differenzierter.“ Allerdings würde bis | |
heute kolportiert, dass es sich dabei um Kurden handele, „aber sehr viel | |
mehr spricht dafür, dass es sich hierbei um aramäisch-stämmige Menschen | |
handelt“. Auch existiere keine 2.600 bis 2.800 Menschen starke | |
„Großfamilie“, „sondern 30 bis 40 Mhallamiye-Familien, die ein ähnliches | |
Schicksal eint“. | |
Damit meint Stucke, dass die meisten von ihnen Ende der 80er-Jahre als | |
Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland gekommen sind: | |
„Viele haben aufgrund ihres unklaren Aufenthaltsstatus keine | |
Arbeitserlaubnis – und das jetzt schon in der dritten Generation. Wenn da | |
jemand kriminell wird, ist es kein Wunder.“ | |
In den 90er-Jahren sei Präventions- und Sozialarbeit zugunsten von mehr | |
Polizei-Präsenz abgebaut worden. Annemarie Czichon hat für Stucke „genau | |
das Richtige gesagt: Sie möchte den Blick weg lenken von einer angeblich | |
homogenen Gruppe hin zum Individuum. Denn wenn man auf eine Gruppierung | |
einschlägt und nicht auf Einzelne, dann führt das zwangsläufig zu | |
Solidarisierungen.“ | |
Czichon, die erst seit November Ortsamtsleiterin ist, sagt: „Menschen, die | |
in einer solchen Atmosphäre aufwachsen und leben, müssen aufgefangen | |
werden.“ Auf der vergangenen Beiratssitzung, zwei Tage nach der Mahnwache, | |
„habe ich ausnahmslos von jedem Anwesenden Beistand bekommen.“ | |
16 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
## TAGS | |
Überfall | |
Bremen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |