# taz.de -- Soziologe Detlef Pollack über Glaubenstrends: „Ein Ende der Kirc… | |
> Das Interesse an alternativen Religionsformen wächst. Wirklich | |
> praktiziert werden sie aber kaum, sagt der Soziologe Detlef Pollack. | |
Bild: Weniger frequentiert, aber in ihrer Praxis grundsätzlich für erhaltensw… | |
taz: Herr Pollack, verschiebt sich der Glaubenstrend in Deutschland? | |
Detlef Pollack: Der Trend verschiebt sich ständig, allerdings nur sehr | |
langsam. Wenn man einen längeren Zeitraum in Augenschein nimmt, sagen wir | |
die letzten 40 Jahre, kann man die Veränderungen erkennen: Die Bedeutung | |
von Transzendenz-Vorstellungen, der Glaube an Gott, an Himmel und Hölle | |
geht leicht zurück. Aber es gibt auch gegenläufige Entwicklungen. Wenn es | |
um Spiritualität, Reinkarnationsglauben oder Esoterik, also um alternativ | |
religiöse Vorstellungen geht, ist die Tendenz leicht steigend. Man darf das | |
Ausmaß der Gegenbewegungen nicht übertreiben, aber sie lassen sich | |
empirisch beobachten. | |
Ich habe den Eindruck, dass man kaum noch in einen Laden gehen kann, ohne | |
auf Buddha-Statuen zu treffen. Sagt dies nicht viel über unsere | |
Gesellschaft und deren schnelle Glaubensveränderung aus? | |
Man muss hier unterscheiden zwischen dem Interesse an nichtchristlichen und | |
alternativen Religionsformen und der Bereitschaft, sich wirklich auf sie | |
einzulassen. Wenn man die Leute in repräsentativen Studien fragt, ob sie | |
sich für Spiritualität, Buddhismus und New Age interessieren, sagt fast die | |
Hälfte „ja“. Genauso viele interessieren sich auch für das Leben Jesu oder | |
Fragen der Schöpfung. Fragt man sie aber, ob sie schon einmal an Kursen | |
über Energietraining oder Bachblütentherapie teilgenommen haben, sind es | |
nur noch ganz wenige, die das bejahen. In der Regel überschreitet der | |
Anteil dann nicht die Fünf-Prozent-Marke. | |
Aber wieso findet der Anstieg im Bereich der Spiritualität statt und nicht | |
bei den christlichen Kirchen? | |
Dies ist keine leicht zu beantwortende Frage. Viele Menschen wollen nicht | |
nur in Beruf und Freizeit, sondern auch in der Religion ihre persönlichen | |
Selbstverwirklichungsansprüche realisieren. Und das können sie besser, so | |
meinen sie, wenn sie sich alternativ-religiösen Vorstellungen zuwenden. Die | |
traditionelle Christlichkeit wird als dogmatisch verfestigt, auch als | |
verstaubt und autoritär wahrgenommen. Von den Kirchen erwarten viele eine | |
Einschränkung ihrer Individualität. Die Menschen möchten sich aber nicht | |
einer Institution unterwerfen, sondern auch im Bereich der Religion auf | |
Selbstbestimmung und Freiheit nicht verzichten. | |
Die Leute wollen sich also mehr mit sich selbst beschäftigen? | |
Ja, in der Esoterik und im alternativ-religiösen Sektor geht es sehr stark | |
um eine Ausweitung der individuellen Erlebnismöglichkeiten, um | |
Persönlichkeitswachstum und Horizonterweiterung, und auf jeden Fall darum, | |
Autoritäten abzuwehren. Autoritäten sind dazu da, hinterfragt zu werden. | |
Das wird auch deutlich an dem Bild, das sich die Mehrheit der Menschen von | |
Gott macht. Gott ist nicht mehr der strafende Richter, der Patriarch, der | |
in unser Leben eingreift, sondern eine höhere Macht, unpersönlich, | |
unvorstellbar und irgendwie ungreifbar. Die meisten, die noch an Gott | |
glauben stellen ihn sich auch nicht mehr als Person, sondern als ein | |
geistiges Wesen vor. Dieses verlangt nicht etwa Gehorsam, sondern liebt den | |
Menschen, jeden, auch den Ungläubigen, den Sünder ohnehin, den ganz | |
besonders. Gott ist nicht mehr ein strenges Gegenüber, das den Menschen zur | |
Rechenschaft ziehen kann, sondern eine energetische Macht, die letztendlich | |
dem Einzelnen dazu dient, seine Transzendierungsfähigkeit zu steigern und | |
seine Lebensentwürfe in eine andere Sphäre zu verlängern. | |
Und damit ist auch die Spiritualität auf dem Vormarsch? | |
Es ist nicht so, dass die Menschen kaum noch an Gott glauben und sich nicht | |
mehr als religiös, sondern nur noch als spirituell definieren. Die meisten | |
sehen zwischen Religiosität und Spiritualität keine Alternative. Nur sehr | |
wenige lehnen die neuere Spiritualität ab und betonen demgegenüber | |
christliche Vorstellungen und Praktiken. Die meisten, vor allem die, die | |
der Kirche distanziert gegenüberstehen, aber sie auch nicht rundweg | |
ablehnen, praktizieren ein lauwarmes Christentum und integrieren dann und | |
wann, wenn es ihnen passt, auch alternativ-religiöse Praktiken, Zen | |
Meditation, Ayurveda, Reiki. Man sollte aber auch den wachsenden Anteil | |
derjenigen nicht unterschätzen, die sowohl mit der traditionellen | |
Religiosität als auch mit der neueren Spiritualität wenig anzufangen | |
wissen. | |
Kamen diese Veränderungen in der Nachkriegszeit auf? | |
Nein, bis in die 60er-Jahre hinein herrschte in Deutschland-West die | |
traditionelle Kirchlichkeit vor mit einem konventionellen Gottesbild und | |
hohen Kirchgangsraten. Aber mit dem Wohlstandsanstieg hat sich die | |
Bindungskraft des traditionellen Christentums abgeschwächt. Mehr und mehr | |
sahen die Menschen nicht mehr die Kirchengemeinde als Mittelpunkt ihres | |
Lebens an, sondern fühlten sich zunehmend durch Rockmusik, Diskos, | |
Restaurantbesuche, durch Theater und Kino, ja auch durch ausgedehnte Reisen | |
angezogen, die sie sich mehr und mehr leisten konnten. Hinzu kommen | |
Veränderungen in der Familienstruktur. Die Scheidungsrate stieg, die | |
Erwerbsbeteiligung der Frauen ebenfalls, so dass die religiöse Erziehung | |
der Kinder, die zumeist in der Hand der Frauen lag, nicht mehr so wie | |
früher gewährleistet werden konnte. | |
Wie groß sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland? | |
Die kann man kaum überschätzen. Im Westen gehören knapp vier Fünftel der | |
Bevölkerung der Kirche an, im Osten etwa ein Viertel; im Westen sind es | |
nach wie vor etwa 70 Prozent, die in irgendeiner Art und Weise an einen | |
Gott glauben, im Osten zwischen 20 und 30 Prozent. | |
Hat das seine Ursache allein in der unterschiedlichen politischen | |
Entwicklung nach 1949? | |
Genau. Vor 1949 war die religiöse Situation in beiden Regionen in etwa | |
gleich. Die Zahl der Konfessionslosen lag in Ost und West bei knapp fünf | |
Prozent. Es gab kaum nichtchristliche Religionsgemeinschaften. Allerdings | |
machte der Protestantismus im Osten die Mehrheit der Bevölkerung aus, | |
während im Westen Katholizismus und Protestantismus annähernd gleich stark | |
waren. Doch dann kam die Unterdrückung der Kirchen im Osten durch das | |
SED-Regime, dem die Kirchen und die Christen nicht gewachsen waren. | |
Wie, glauben Sie, wird das religiöse Bild in Deutschland in Zukunft | |
aussehen? | |
Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass sich die Integrationsfähigkeit der | |
christlichen Kirchen weiter abschwächt und alternative Religionsformen | |
leichten Zulauf gewinnen, ohne aber in der Lage zu sein, die Verluste der | |
Kirchen aufzufangen. Allerdings ist bei den 18- bis 30-Jährigen zu | |
erkennen, dass der Glaube an Gott und die Bereitschaft, den Glauben an die | |
eigenen Kinder weiterzugeben, exponentiell abnimmt. Wahrscheinlich haben | |
sich in der jüngsten Generation die religiösen Mehrheitsverhältnisse auch | |
im Westen bereits derart zuungunsten der Gläubigen verschoben, dass von der | |
wachsenden Zahl der Ungläubigen ein immer stärkerer Druck ausgeht, der | |
weitere Abbrüche auch bei religiös Gebundenen provoziert. | |
Bedeutet das das Ende für die Kirchen, oder braucht man sie noch für | |
Hochzeiten und Beerdigungen? | |
Tatsächlich, was die Beerdigung und die Taufe angeht, besitzen die Kirchen | |
noch eine hohe Bedeutung. Die Mehrheit derjenigen, die heiraten, lässt sich | |
aber schon lange nicht mehr kirchlich trauen. Die Kirchen sind wichtig bei | |
der Begleitung der Menschen bei Lebenswenden und bei der Betreuung von | |
Kranken und Alten. Viele wollen nicht, dass sie einfach verschwinden. Es | |
soll sie geben, damit man auf sie notfalls zurückgreifen kann, auch wenn | |
man sie aktuell vielleicht nicht benötigt. Auch fällt es den Menschen | |
schwer, aus der christlichen Tradition, in der ihre Familien stehen, | |
einfach auszusteigen. Ein Ende der Kirche ist so bald nicht in Sicht. | |
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23 Aug 2013 | |
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## AUTOREN | |
Lennart Giessing | |
## TAGS | |
Glaube, Religion, Kirchenaustritte | |
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