| # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Auf ein Bier mit Peer Steinbrück | |
| > Über das Trinken im Politikbetrieb, die blinden Flecken in unserer | |
| > Wahrnehmung und warum ein Glas Bier den Kanzlerkandidaten fertig macht. | |
| Bild: Ein Bier, ein Kronleuchter, ein Kandidat | |
| Ich bin kein großer Fan von Peer Steinbrück, aber neuerdings habe ich das | |
| Gefühl, dass ich früher gerne mit ihm getrunken hätte. Bei seinem | |
| Wahlkampfauftakt, einer Art Townhall-Meeting auf Norderney Anfang des | |
| Monats, stand ein Glas Bier neben ihm auf dem Podest, das er nicht | |
| anrührte. | |
| Nach einer Stunde fragte er nach Mineralwasser, hieß es in der Presse, und | |
| erklärte dem Publikum, dass er seiner Frau zugesagt habe, während des | |
| Wahlkampfs keinen Alkohol zu trinken. Das Bierglas da mache ihn fertig. Man | |
| kann sich vorstellen, dass es ein großer Spaß sein muss, mit Herrn | |
| Steinbrück außerhalb des Wahlkampfs an einem Stammtisch zu sitzen. | |
| Als im Sommer vor zwei Jahren der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende | |
| Andreas Schockenhoff nach einem 2,3-Promille-Unfall mit Fahrerflucht | |
| bekannte, alkoholkrank zu sein, entbrannte in Deutschland kurz eine | |
| Diskussion um das Trinken im Politikbetrieb. Die beschränkte sich im | |
| wesentlichen auf die These, dass Politiker besonders gefährdet seien. Kein | |
| Sommerfest, kein parlamentarischer Botschafts-, Lobby- oder Verbandsabend, | |
| bei dem es nicht reichhaltig zu trinken gäbe. Hinzu kämen die großen | |
| Spannungszustände, die der Beruf mit sich bringe – der Termindruck, die | |
| stetigen Angriffe politischer Gegner, die Beobachtung durch die Medien. Das | |
| alles ist natürlich richtig. | |
| Doch die Diskussion hatte einen recht eklatanten blinden Fleck. Denn wir | |
| sind es, die ganz selbstverständlich von Politikern erwarten, dass sie uns | |
| trinkend ein bestimmtes Gefühl von Zusammengehörigkeit und Augenhöhe | |
| vermitteln. Wir trinken nämlich auch gerne. In Deutschland ist dieses | |
| Phänomen ausgeprägter als anderswo. Bis heute zitiert man genüsslich | |
| Joschka Fischer, der den Bundestag einst als ordinär nach Schnaps stinkende | |
| „Alkoholikerversammlung“ bezeichnete. | |
| ## Kollektive Auffassung, dass es sich einfach gehört, zu trinken | |
| Heroische Trinkgeschichten ranken sich um Franz Josef Strauß, Willy Brandt | |
| oder Gerhard Schröder. Und von jedem Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker | |
| existiert mindestens ein joviales Foto, auf dem ein Bierglas im Zentrum | |
| steht. Andreas Schockenhoff war mehr als der zu bedauernde | |
| Kollateralschaden eines schwierigen Betriebs, zu dem ihm die damaligen | |
| Betroffenheitsartikel machten. Er war auch das Produkt der kollektiven | |
| Auffassung, dass es sich einfach gehört, zu trinken, solange wir nur hart | |
| genug im Nehmen sind. | |
| Die meisten von uns sind nicht hart genug im Nehmen – wir erzählen uns das | |
| nur gerne. Der letzte Drogenbericht der Bundesregierung vom Mai dieses | |
| Jahres konstatierte, dass fast ein Drittel aller Deutschen an der Schwelle | |
| zum Alkoholismus stehen. Eine alarmierende Zahl natürlich, aber scheinbar | |
| keine, die eine Debatte wie die um die trinkenden Politiker nötig machte. | |
| Obwohl wir es alle besser wissen sollten, assoziieren wir Alkoholiker immer | |
| noch mit dem klassischen Bild vom Straßentrinker, der einen verschwindend | |
| kleinen Prozentsatz der Trinkbevölkerung ausmacht. | |
| Funktionierende Alkoholiker gibt es überall, in Anwaltskanzleien, | |
| Redaktionen, Architekturbüros und eben auch im Bundestag. Sie ziehen | |
| Familien groß, sitzen beim Elternabend und im Kino neben Ihnen, stehen wie | |
| Sie an der Supermarktkasse. | |
| Die Wahrheit ist, dass man viel erreichen kann, auch wenn man zu viel | |
| trinkt. Man konstruiert sich wirksame Fassaden eines scheinbar produktiven | |
| Lebens. Fassaden, hinter denen man sich versteckt und die man wie ein Alibi | |
| vor sich herträgt. Dann beißt man die Zähne zusammen und kommt einfach | |
| irgendwie durch. Und wenn ein Anflug von Erleichterung in Sicht ist, greift | |
| man zu dem, was dem Klischee, tatsächlich am Leben zu sein, am nächsten | |
| kommt – dem Glas. | |
| 29 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schreiber | |
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