# taz.de -- Kolumne Immer bereit: „Es handelt sich nemlich bessüchlich der W… | |
> Ein Wiedersehen mit einem älteren, aber leicht besoffenen Herrn. | |
Da ist diese Stimme in meinem Kopf. Seit Wochen schon. Sobald ich auf die | |
Straße gehe, ist sie da. Laut ist sie, und es klingt, als hätte der | |
Sprecher einen Kamm verschluckt und eine Drahtbürste hinterher. Ganz | |
schlimm ist es an großen Straßenkreuzungen. Gestern stehe ich mit dem | |
Fahrrad im Wedding, See-/Ecke Müllerstraße und warte auf Grün, da ruft die | |
Stimme: „Wie Sie mir hier sehn, bin ick nemlich aus’s Fensta jefalln. Wir | |
wohn’ Hochparterr’, da kann so watt vorkomm’.“ | |
Ich kenne das schon. Ich hab das alle vier Jahre. Manchmal öfter, wenn | |
Landtagswahlen dazukommen. Die Stimme gehört dem Schauspieler und | |
Kabarettisten Gerd E. Schäfer, der Text ist Tucholskys „Ein älterer, aber | |
leicht besoffener Herr“. Die Aufnahme, die in meinem Kopf auf Repeat läuft, | |
kommt von der Amiga-Platte „Lyrik – Jazz – Prosa“ mit Live-Mitschnitten… | |
gleichnamigen Veranstaltungsreihe in den 60ern. Biermann trat da auf, | |
Manfred Krug, Eberhard Esche. Die Platte ist so was wie der | |
„Traumzauberbaum“ für Erwachsene. Jeder kennt sie, alle können sie | |
auswendig. Na ja. Alle Ossis können das auswendig. Man muss Teil des | |
Kollektivs sein, um vom kollektiven Gedächtnis zu profitieren. | |
Der Text, den Tucholsky 1930 schrieb und Schäfer 1965 rezitierte, ist der | |
Monolog eines Berliners, der eine Sauftour durch die | |
Wahlkampfveranstaltungen der Parteien hinter sich hat, denn „man muss si’ | |
ja auf den Laufenden haltn, dis’s eine pattolorische Fflicht“. | |
Jahre ist es her, da war ich als selbständige Künstlerin mal auf einer | |
Wahlkampfveranstaltung der Linken im Prater, da hießen sie noch PDS. Gysi | |
war da und Kuttner und im Publikum saß ein alter Knacker, der bei allem, | |
was Gysi sagte, aufstand und laut klatschte. Ich ging vor die Tür und rief | |
meine Tante Erna an: „ ’Muttakin‘, habick jesacht, ,Muttakin‘, ick habe… | |
deutsche Volk bei seine Wahlvorbereitung studiert!‘“ – „Besoffen biste!… | |
rezitierte Tante Erna richtig. Nur leider gab es nichts zu trinken, weder | |
„Brauselimminade mit Schnapps“ wie bei den Nazis bei Tucholsky noch | |
„Schwedenpunsch“ oder „Kimmel“. | |
Stattdessen hängt die NPD 2013 Plakate auf, wo draufsteht „Touristen | |
willkommen, Ausländer raus“, und Onkel Klaus, der ja Österreicher ist, | |
steht davor und sagt: „Wie jetzt?“ | |
„Bist du eigentlich wählen gegangen im Osten?“, frag ich Tante Erna. | |
„Klar!“, sagt sie, „war doch Pflicht. Sonst hatt’ste gleich die | |
Drückerkolonne vor der Tür.“ – „Mhm“, sage ich. „Bei der letzten Wa… | |
sagt Erna, „’86, da war ich richtig mutig. Da bin ich in die Kabine | |
gegangen.“ – „Du bist was?“, frage ich. Es ist einer dieser Momente, wo… | |
merke, dass das Land, in dem sie aufgewachsen ist und ich geboren wurde, | |
seit fast einem Vierteljahrhundert nicht mehr existiert. | |
## Es wurde ganz still im Raum | |
„Na ja“, sagt sie, „normalerweise haste dich brav in die Schlange gestell… | |
deinen Zettel in Empfang genommen und in die Urne geworfen.“ – „Und wie h… | |
man das Kreuz gemacht?“, frage ich. Die Zettel sind schließlich aus Papier, | |
das wird früher nicht anders gewesen sein, und selbst wenn man pro forma | |
ein Kreuz macht, braucht man dafür doch eine Unterlage. „Da wurden keine | |
Kreuze gemacht“, sagt meine Tante, „du hast die Liste gewählt, so, wie sie | |
war. Nur ’86, da bin ich in die Kabine gegangen und hab meinen Stimmzettel | |
ungültig gemacht. Es wurde ganz still im Raum. Alle haben den Atem | |
angehalten. Wundert mich bis heute, dass das nicht in meiner Akte stand.“ | |
Ernas Akte wurde gesäubert, wahrscheinlich, so wie die von ihrer Freundin | |
Christel. Die wohnte damals in Strausberg, zwischen lauter Armeebonzen. | |
„Wären wir nicht gewesen, hätten sie die Lokale um neun wieder schließen | |
können. Pünktlich um acht standen die Genossen Schlange. Nur wir sind erst | |
kurz vor Schluss gekommen.“ | |
Autohupen, Fahrradklingeln. Zurück im Wedding. Ein überlebensgroßer | |
Steinbrück zeigt auf mich. Der „ältere Herr“ will am Ende übrigens alle | |
Parteien wählen. Der längste Applaus für Schäfer kam nach der Begründung | |
für die SPD: „Ett is so ein beruhijendet Jefiehl. Man tut watt von | |
Revvellessjion und weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt’se janz | |
bestümmt nich!“ | |
7 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |