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# taz.de -- Die Wahrheit: Philosoph der Stille
> Brasilienwoche der Wahrheit: Senhor Mürrinho in der Samba-Hölle. Oder:
> Der Traum von einem Leben im idyllischen Dinslaken.
Bild: Der Samba de Germania ist vor allem geprägt vom melodischem Geklapper de…
Rolf Amadeo da Moura Brandão schüttelte resigniert den Kopf. Diese
Samba-Parade, die nun schon seit geschlagenen sechs Stunden direkt vor
seiner Haustür vorbeizog, ging ihm gehörig auf den Senkel. Dieses
Dauer-Hüftgewabbel und Pogewackel, begleitet von enervierendem Gerassel,
Getrommel und Getröte, mochte den zahllosen Touristen als Inbegriff
brasilianischer Lebensfreude gelten, aber ihn brachte diese nicht enden
wollende Fiesta tropical schier zum Wahnsinn.
Karneval in Rio eben, Lebenslust pur, auch für die meisten seiner
Landsleute ein Quell ewiger Freude – für Rolf Amadeo da Moura Brandão aber
ein Inbegriff all dessen, was ihm an seiner brasilianischen Heimat gegen
den Strich ging. Vielleicht sollte er wirklich seinen Traum wahr machen und
nach Dinslaken auswandern? Seinen Lebensmittelpunkt in eine wunderbar
unscheinbare deutsche Provinzstadt verlegen, wo er ganz ungestört seinen
Steckenpferden nachgehen konnte?
Doch leider war es noch nicht so weit. Und deshalb sah die Realität
momentan ganz düster aus. Diese dauergrinsenden Samba-Wackelfrauen konnten
von ihm aus ja ihren Neigungen nachgehen – aber doch bitte nicht
ausgerechnet vor seinem Hobbykeller. Er wollte doch nur in Ruhe seine
Patiencen legen und gelegentlich seine Briefmarkensammlung neu ordnen – war
das etwa zu viel verlangt? Offenbar schon. Hatte der Brasilianer erst
einmal die nötige Dosis Cachaca intus, war es mit der Beschaulichkeit
vorbei. Und setzten erst einmal die Sambatrommeln ein, dann war die
schönste Saudade im Eimer.
Die Mürrischen und Melancholischen, die Missmutigen und Beladenen hatten es
nicht einfach in diesem Land der überschäumenden Leidenschaften. Rolf
Amadeo da Moura Brandão sehnte sich nach der nüchternen Lebensweise der
deutschen Provinz, nach dem wortkargen Pragmatismus seiner Bewohner, über
die er so viel schon gelesen hatte. Die Menschen im fernen Germanien trugen
funktionelle Freizeitkleidung statt extravagant exotischen Federschmuck.
Statt heißblütiger Rhythmen gab es dort allenfalls das melodische Geklapper
von Nordic-Walking-Stöcken als Begleitgeräusch eines sonst erfreulich
unspektakulären Alltags.
## Leckerer Schweinebraten
Und was sagen eigentlich Rolfs Mitmenschen zu diesem wunderlichen, so ganz
unbrasilianischen Zeitgenossen? Joao Epaminondas, Nachbar und glühender
Anhänger des Fußballclubs Fluminense, nennt den verschrobenen Patron ob
seiner Deutschland-Marotte nur „Mürrinho“, den Mürrischen. Rolf Amadeo da
Moura Brandão hingegen hält die Fußballleidenschaft seiner Landsleute für
eine wahnhafte Verirrung. Bälle gehören seiner Meinung nach nicht mit den
Füßen getreten, sondern verzehrt. Und zwar am besten in der Form von
Kartoffelknödeln als Beilage zu einem leckeren Schweinebraten.
Maria de Assis Moreira, die alte Dame aus dem dritten Stock, kann der
Haltung ihres nörglerischen Nachbarn allerdings nicht ganz den Respekt
versagen. „Er ist eben ein Philosoph der Stille“, sagt sie, während sie ihr
laut dröhnendes Küchenradio etwas leiser dreht und sich den zweiten
Caipirinha des Nachmittags genehmigt. „Aber er könnte schon ein bisschen
mehr aus sich herausgehen.“
Auf all diese mehr oder weniger mitleidigen Kommentare seiner Hausgenossen
könnte Rolf Amadeo da Moura Brandão getrost verzichten. Aber er will auch
nichts Schlechtes über sie sagen. Vor allem heute nicht. Denn heute ist
sein Glückstag: Elsbeth Breitenbach, seine langjährige Brieffreundin und
Seelenverwandte aus Bad Salzuflen, hat ihm geschrieben. Sie lädt ihn nach
Deutschland ein, endlich, so lange hat er darauf gewartet. Er soll sie zum
alljährlichen Stelldichein der deutschen Griesgrämerfürsorge in Rothenburg
an der Wümme begleiten.
Vielleicht sollte er wirklich den scheußlichen Carnaval do Brasil hinter
sich lassen und der verlockenden Einladung in die norddeutsche Tiefebene
folgen. Sogar die Wettervorhersage für Norddeutschland klingt
vielversprechend – Schneeregen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Einfach herrlich!
11 Oct 2013
## AUTOREN
Rüdiger Kind
## TAGS
Die Wahrheit
Brasilien
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